Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache. Ronald Dworkin spielt gerne auf das Zitat von Archilochos an. Denn Dworkin will sie liefern, die igelschlaue, eine, große politische, moralische, ethische Theorie.

Fuchs und Igel – die beiden stehen für zwei gegensätzliche Denkweisen bei philosophischen Systemen: Einerseits die fuchsschlauen Angelsachsen, mit ihrer Aufsatz-Philosophie, dem Klein-Klein der Denkerzunft. Andererseits der Igel mit dem großen Wurf, dem System mitarchimedischem Punkte. Ein solcher Igel will Ronald Dworkin, Juraprofessor in Yale und Oxford, sein.

Eine intellektuell bereichernde Reise ist das, die Moral und Ethik überhaupt begründet und bis zu Grundsätzen der politischen Philosophie voranschreitet. Dworkin untersucht zu Anfang, wie moralische Sätze überhaupt wahr sein können, eine grundlegende Frage nach der Postmoderne, in der irgendwie mal alles erlaubt und nichts streng verpflichtend schien. Hier zeigt sich Dworkin im Gefolge von John Rawls streng antimetaphysisch. Die Moral kommt nicht von Gott, wie das Religionsführer und US-Republikaner in Ermangelung strenger Begriffe gerne predigen. Schließlich landete man dann auf einer schiefen Ebene, auf der man außerweltliche Ursachen und Götter, kurz: Wunder mit unserer Realität verketten müsste, und das wäre christliche Sophisterei, im Allgemeinen Scholastik genannt.

„Um die Aussage, Abtreibungen seien immer verwerflich, wahr nennen zu dürfen, muß ich ein moralisches Argument dafür anführen, daß diese sehr kontroverse Meinung wahr ist. Einen anderen Weg gibt es schlicht nicht.“

Dworkin konstatiert eine eigenständige Sphäre der moralischen Urteile. Das sieht nur auf den ersten Blick wie ein platonischer Ideenhimmel aus. Denn Dworkin meint nichts Anderes, als dass moralische Urteile nicht, wie naturwissenschaftliche Theorien, an der Realität getestet werden. Sie gelten auch nicht, nur weil ein Großteil der Bevölkerung ein Verhalten für geboten hält. In der Moral herrscht kein Mehrheitswahlrecht!

„Ich vermute, Sie glauben […], dass es auch dann falsch wäre, Babys mit Nadeln zu stechen […], wenn faktisch niemand etwas dagegen einzuwenden hätte oder niemand diese Dinge für abstoßend halten würde, Sie selbst eingeschlossen. Mit anderen Worten, Sie denken wahrscheinlich, dass die Wahrheit Ihrer moralischen Überzeugungen nicht davon abhängt, was irgend jemand denkt oder fühlt.“

Schön und gut, nur scheinen sich in der politischen Philosophie so manche Urteile und Begriffe gegenseitig auszuschließen: Wenn ich meine, dass Freiheit und Gleichheit zugleich verwirklicht werden müssen – etwa in einer neoliberalen und doch sozialstaatlichen Ordnung -, beißt sich etwas, wie sich immer wieder in derzeitigen politischen Debatten zeigt. Im zweiten Teil des Buches umreißt Dworkin deshalb seine Lösungsstrategie: Werte – wie Freiheit und Gleichheit, werden von uns nicht qua Wörterbuch definiert, sondern stets ausgelegt. Die Aufgabe der Philosophie sei es demgemäß, Begriffe so zu interpretieren, dass sich ein stimmiges Wertgefüge ergebe, dass zum Beispiel Freiheit und Gleichheit versöhnt werden können.

„Darüber hinaus müssen wir zur Verteidigung einer bestimmten Auffassung eines politischen Werts wie Gleichheit oder Freiheit auf andere Werte Bezug nehmen, da die Verteidigung einer bestimmten Freiheitskonzeption durch Verweis auf die Freiheit selbst wenig überzeugend und zirkulär wäre. Wir sind demnach auf die Integration der politischen Begriffe angewiesen, weil keine Interpretation eines bestimmten Werts verteidigt werden kann, ohne daß zugleich gezeigt wird, wie sie sich zu überzeugenden Konzeptionen anderer Werte verhält.“

Der Philosoph deduziert also nicht mehr aus obersten Prinzipien, er malt keine Bäumchen mehr. Das ‚Netz der Begriffe‘ ist die Leitmetapher. Der Charme dieses „Werte-Holismus“ liegt darin, dass er die Argumente der ultraskeptischen Jünger Jacques Derridas umdreht: Wo die Dekonstruktion behauptete, kein Wert lasse sich begründen, weil er immer auf andere Begriffe und diese auf wieder andere rekurrierten, sieht Dworkin umgekehrt ein sich stützendes Wertgefüge.

Welche Werte sind nun aber zentral, und warum sollen wir uns ihnen verpflichtet fühlen? Dworkin wird im dritten Teil konkreter: Er möchte zeigen, dass wir, wenn es uns um unsere eigene Lebensführung geht, bestimmte Werte voraussetzen müssen, und das auch in unserem Verhalten anderen gegenüber tun müssen. Von einer Lebensethik des Einzelnen will Dworkin so zu einer politischen Moral im vierten Teil gelangen gelangen.

„Würde und Selbstachtung – wie immer wir sie genau verstehen – sind unverzichtbare Bedingungen einer gelungenen Lebensführung. Dass dem so ist, zeigt sich daran, was die meisten Menschen in ihrem Leben anstreben: Sie wollen aufrecht und stolz allen ins Gesicht sehen können, während sie sich um die Erfüllung ihrer anderen Wünsche bemühen.“

Im Rückgriff auf antike Ethik und auf eine verborgene Seite von Kant fördert Dworkin so eine egoistische Triebfeder zum gelungenen Leben zutage, die wirkungsvoller ist als eine bloße kalte Pflichtethik. Ich kann nicht anders, als mich um mein Leben zu kümmern, und dabei in irgendeiner Form realisieren zu wollen, was mir als angemessenes Leben erscheint. In diesem Spannungsfeld  finden sich die stärksten und beglückendsten Passagen im Buch, in ihrer Rhetorik von Erlösung ohne metaphysische Träumereien erreicht sie fast einen Spinoza-Effekt.

„Erinnern Sie sich auch daran, dass mehr als dieses vergängliche Dasein auf dem Spiel steht. Ohne Würde währt unser Leben nur einen Augenblick, aber wenn es uns gelingt, ein gutes und gelungenes Leben zu führen, können wir damit etwas Größeres schaffen. Wir fügen unserer Sterblichkeit gewissermaßen einen Verweis hinzu und machen unsere Leben zu einem winzigen Diamanten im Sand des Kosmos.“

Schade, dass Dworkin manchesmal zu uramerikanisch von „Lebensleistung“ spricht: Letztlich sei unser Lebensentwurf entscheidend, nicht, ob wir ihn tatsächlich realisieren. Die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit ist bei einem Autor, der Professor an zwei Eliteuniversitäten ist, sicherlich geringer als bei uns Normalsterblichen!

Im vierten Teil fährt Dworkin dann das altbekannte Horrorkabinett moral- und rechtsphilosophischer Gedankenexperimente auf: Schlangenbisse und Wettrennen um das Gegengift, Kannibalismus unter Schiffbrüchigen, Spenderorgan-Lotterien und so weiter. Das Ergebnis von so viel Fuchsschläue: Unsere eigene Würde und Authentizität müssen wir anderen auch zusprechen und ermöglichen; wir dürfen anderen nicht vorsätzlich Schaden zufügen. Von hier aus lassen sich erste Abwehrrechte, später Menschenrechte begründen.

Erst der fünfte Teil zeigt die volle Durchschlagskraft von Dworkins Ansatz. Wer es bis hierhin geschafft hat, findet ein Schatzkästlein an Argumenten für eine linksliberale Politik vor. In vielerlei aktuellen politischen Fragen aus dem US-Diskurs bezieht Dworkin denn auch Position, weil er argumentiert, dass wir als Gemeinschaft dem Einzelnen etwas schulden. Gerade die US-Republikaner wollen ungerechte Startbedingungen unter dem Deckmäntelchen einer laisser-faire-Wirtschaftsordnung zementieren; Steuern gelten ihnen gerne als Diebstahl. Dworkin sieht es genau andersherum:

„In vielen Ländern ist das Steuersystem gegenwärtig tatsächlich ungerecht, aber nicht, weil die Steuern zu hoch, sondern weil sie zu niedrig sind. Statt den betreffenden Bürgern etwas zu nehmen, was ihnen von Rechts wegen gehört, gelingt es den entsprechenden Regierungen nicht, die Mittel zur Verfügung zu stellen, die nötig wären, um ihnen zu gewährleisten, was ihnen gebührt.“

Dworkin argumentiert für eine verpflichtende Gesundheitsvorsorge; die Beiträge sollten so hoch sein wie das, was man ohnehin auf dem freien Markt bereit wäre zu zahlen. Ein Staat muss seinen Bürgern soziale Standards gewähren, um ein Leben in Würde zu ermöglichen. Super-PACs, die oft von Milliardären finanzierten Wahlkampfkommittees, beschädigen die Demokratie, weil sie die Gleichheit des politischen Stimmgewichts des Einzelnen aufheben. Für Pornographie, Homoehe und unter Vorbehalten für Abtreibung, gegen den Irakkrieg – Dworkin hält flammende Plädoyers, ist in seine Moral doch auch die Pflicht des Intellektuellen eingearbeitet, sich zum Wohle aller einzumischen. Das Werk ist von tiefer Dialogbereitschaft geprägt: Anmerkungen von renommierten Kollegen wie Amartya Sen oder Kwame Anthony Appiah diskutiert Dworkin in ausufernden Fußnoten und neuerdings in einem Blog zum Buch. Intellektuelles Crowdsourcing inclusive Webanbindung, ergreifend, erhaben, engagiert: inhaltlich und formal also philosophischer state of the art!

Ronald Dworkin: „Gerechtigkeit für Igel“. In der Übersetzung von Robin Celikates und Eva Engel ist das Buch bei Suhrkamp erschienen, 813 Seiten kosten 48 Euro.