David Guterson versucht mit „Der Andere“, eine Ikone des weltabgewandten Verweigerers der Sechziger und Siebziger zu zeichnen.

Die Wahl zwischen einem Leben als Schriftsteller und einem Leben mit Brotberuf fällt vielen Aspiranten meist nur deshalb nicht schwer, weil das Leben den meisten Menschen einen Kompromiss geradezu aufzwingt. Auch der amerikanische Autor David Guterson arbeitete jahrelang als Lehrer und schrieb nebenbei nachts und frühmorgens seinen ersten Roman: „Schnee, der auf Zedern fällt“ brachte ihm dann 1994 viele Preise und den internationalen Durchbruch, auch hierzulande. Der Autor konnte sich in Folge ganz auf seine Schriftstellerei konzentrieren und ist da in gewisser Weise der Hauptfigur seines neuen Romans ähnlich: In „Der Andere“ geht es um einen Lehrer, der vor einem radikalen Lebensentwurf zurückschreckt, den sein bester Freund durchbuchstabiert, der in den Siebzigern als Eremit in der amerikanischen Wildnis lebt, frei von jeglichen gesellschaftlichen Zwängen – so lautet zumindest sein Wunsch.

Eigentlich müsste John William Barry mehr als zufrieden sein: Sproß alteingesessenen Westküsten-Geldadels, hochbegabt, Schüler einer Elite-Highschool, schließlich Collegestudent. Doch er kann mit der Konsumgesellschaft oder den sexuellen Avancen seiner Freundin wenig anfangen. John interessiert sich für die Gnosis, jene frühchristliche Geheimlehre, in welcher die Welt von einem böswilligen Gott verdorben erschaffen wurde. Konsequent zieht John sich in eine Felshöhle in den Wäldern zurück, sagt David Guterson:

In meiner Recherche für dieses Buch fand ich Leute, die versucht hatten, allein in der Wildnis zu überleben. Ziemlich schnell begriff ich, dass so etwas unmöglich ist. Menschen schaffen das einfach nicht!“

Auch nicht John, erfährt der Leser früh im Buch – von Johns Jugendfreund Neil, dem Icherzähler. Schnell erzählt uns Neil auch, dass ihm sein Freund qua Testament 440 Millionen Dollar vermacht hat, was allerdings erst Jahrzehnte später herauskommt. John kann sich zur Ruhe setzen und endlich Schriftsteller werden; ein Lebenstraum, den er früh aufgegeben hatte, um seine Familie mit dem Brotberuf des Englischlehrers zu ernähren. Langsam entsteht ein faszinierendes Doppelporträt: Der kompromissbereite Neil erbt den Wohlstand des Weltverweigerers John. Neils erstes Buch ist dieser Roman: der Versuch, seinen tödlich konsequenten Freund zu verstehen, dem er zunächst  regelmäßig Konservendosen, Medikamente oder Werkzeuge in die Höhle brachte, bis er, durch einen Unfall verhindert, ihn nach längerer Zeit tot auffand.

„Neill ist wie Johns Schatten, und John ist Neills Schatten. Jeder ist die ungelebte Seite des anderen. Was der Roman untersucht ist Folgendes: Wenn Du absolut streng nach moralischen Regeln lebst, dann wirst Du sehr wahrscheinlich in jungen Jahren sehr unglücklich oder tot enden. Reife besteht darin, zu bestimmen, wie Du diese Kompromisse eingehst und Dein Glück findest, obwohl Du einsiehst, dass Du nicht ganz die Person bist, die Du gerne sein würdest.“

David Guterson zeichnet mit John ein Reinbild des Zivilisationskritikers; einen Eremiten, radikal christlich, doch weitaus intellektueller als die US-Evangelikalen; einen Menschen, welcher der Natur begegnet, die aus unserer Lebenswelt verschwindet.  Wenn Neil alles erst Jahrzehnte später, in der Gegenwart, niederschreibt, hat diese Geschichte trotzdem Relevanz.

„John ist wie eine Ikone für den Radikalismus der Sechziger und frühen Siebziger. Und viele Menschen, die heute als Anwälte oder Firmenangestellte arbeiten, wurden in den Sechzigern geprägt. Irgendwo tief drinnen sind sie mit den Werten des modernen Lebens unzufrieden. Die meisten sind sich darüber bewusst, aber tun nichts.“

Leider ist das Buch passagenweise überdetailliert; mehrere psychologische Erklärungen von Johns Vater wirken am Romanende wie nachgereicht und nehmen der Figur das Potential einer überzeitlichen Aussagekraft. Und nicht handlungsgetrieben, sondern kontemplativ ist dieses Buch. Deshalb aber ein Gewinn für jeden, der sich mit seinen eigenen Lebensentscheidungen auseinandersetzen will.

(für NDR Kultur)