Ein amerikanischer Autor, der über existentielle Situationen schreiben möchte, findet heute in der Geschichte genug Material zur historischen Einbettung, vom zweiten Weltkrieg über Vietnam bis hin zum elften September. Mit solchen Stoffen lässt sich ein Erfahrungsreservoir anzapfen, was auch mittelmäßiger Erzählkunst viel Wirkung verspricht. In seinem Kurzgeschichtenband „Bis an das Ende der Nacht“ verzichtet der Debutant Christopher Coake darauf, souverän und mit Recht. Ohne nennenswerten historischen Hintergrund erzählt er pointiert, detailliert und variationsreich von der Liebe im Angesicht des Todes. Schnörkellos entfaltet er oft die Dilemmata der Figuren:

„Albert ist neunundsiebzig, und er stirbt. Vor einem Monat ist bei ihm Krebs diagnostiziert worden, und nach ausführlicher Beratung mit seinen Ärzten hat er sich gegen eine Behandlung entschieden.“

Albert plant seinen Selbstmord: Der Bestimmung des Todes kann er nicht entgehen, aber bestimmen kann er das letzte Bild, das seine Frau von ihm haben wird. Er wünscht, dass sie ihm bei seinem Ende in Würde hilft – für sie ist es der Mord an ihrem Ehemann. Er will die letzte Möglichkeit der Lebensgestaltung nutzen, bevor alle Möglichkeiten verschwinden – für sie ein Unmögliches schlechthin. Jeder Absatz der Erzählung ist ambivalent, fast unbemerkt wechselt Coake immer wieder die Perspektiven.

Ähnlich gelungen die Geschichte einer jungen Mutter: Sie fürchtet um das Leben ihres Mannes, eines passionierten Bergsteigers auf einer Tour in Nepal. Während ihm der Gedanke an seine Frau hilft, den Berg als größte Herausforderung zu bezwingen, die Todesgefahr durch Liebe zu überwinden, facht ihre Liebe ihre unglaubliche Angst und Panik erst an.

Der drohenden Kitschgefahr entgeht Coake. Vielleicht hat hier seine Lebenserfahrung Pate gestanden, denn Coake hat seine erste Ehefrau durch den Krebs verloren. Doch die ausgefeilten Geschichten bedürfen keines Hinweises auf diese teils tragische Biographie. Denn Coake, zweifacher Absolvent von creative-writing-Studiengängen und an der Universität Nevada in Reno Professor in eben diesem Fach, beherrscht sein Handwerk.

Die Figuren zeichnet er widersprüchlich und dadurch lebendig: Dana, eine Frau kurz vor dem Seitensprung, erinnert sich daran, wie ihr späterer Mann Bryan ein Unfallopfer aus einem brennenden Wagen rettete. Als sie damals um sein Leben bangte, erkannte sie ihre Liebe zu ihm – und gleichzeitig auch den banalen Mechanismus, heldenhafte Männer zu verehren.

Innere Monologe und die erlebte Rede setzt Coake gekonnt ein und gewinnt eine Unmittelbarkeit der Darstellung, ganz egal, ob aus der Perspektive eines unglücklich verliebten und in ein Verbrechen verstrickten Sheriffs erzählt wird oder der Leser durch die Augen einer Lesbe mit Kinderwunsch blickt.

Oft gewinnen die Figuren nach und nach ihre Tiefe, wie Brad und Melody. Das junge Liebespaar will illegal ein paar Tage in einer fremden Wochenendhütte verbringen und wird eingeschneit. Minutiös beschreibt Coake die einsetzenden Schrecken: Die zur Neige gehenden Konservendosen, den ausgehenden Gasofen, die letzten herunterbrennenden Kerzen, die Dunkelheit. Anekdoten in Form von Erinnerungen und Flashbacks verraten: Brad ist wegen Drogenhandel auf Bewährung, Melody ängstlich und selbstmordgefährdet. Soll er Hilfe holen und seine Bewährung verspielen? In der simplen Situation werden die Fragen immer existentieller: Soll er zur meilenweit entfernten Tankstelle stapfen und dabei sein Leben riskieren? Was, wenn er durchkommt, aber sie erfroren wiederfindet?

Darüber hinaus spielt Coake mit der offenen Form: Einmal erzählt er unchronologisch in die Vergangenheit zurück. Ein andermal führt eine überraschende Wendung zu einem zweiten Problem, und der Leser wird in ein doppelt unsicheres, doppelt offenes Ende entlassen.

Christopher Coake: „Bis an das Ende der Nacht“, aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Roth, ist bei Goldmann erschienen und kostet 14 Euro 95.

Rezensiert für die SWR2 Buchkritik.