150 Kilo wiegt dieser Teenager und er zittert jedes Mal im Sportunterricht, wenn es ans Reck geht. Oscar mag ein dominikanisch-stämmiger US-Amerikaner sein – aber das Ziel, seine Jungfräulichkeit zu verlieren, wird er so schnell nicht erreichen. Vom geradezu verpflichtenden Don-Juanismus seiner Volksgruppe hat Oscar offenbar nicht viel geerbt, weshalb ihn selbst die Freundinnen seiner Schwester nicht als männliches Wesen ernstnehmen. Egal, ob sich Oscar an der Schule in New Jersey in eine schöne Mitschülerin oder am College in eine Gruftie-Studentin verliebt – immer scheint es unglücklich zu enden. Irgendwann träumt der Schulstreber Oscar nur noch davon, als Schriftsteller, als der „dominikanische Tolkien“ zu Ruhm zu gelangen.

„Er war ein glühender Fan von Rollenspielen. Wäre er auch noch gut in Videospielen gewesen, hätte er komplett abgeräumt, aber obwohl er eine Atari-Konsole und ein Intellivision besaß, fehlten ihm einfach die nötigen Reflexe. […] Der Kleine trug seine Spinnerhaut wie ein Jedi sein Lichtschwert.“

Über weite Passagen erzählt Oscars Collegefreund Yunior die Geschichte, und die verlangt offenkundig, dass er hochgebildete genauso wie popkulturelle Zitate einstreut. Spielerisch meistert Díaz diese verschiedenen Sprachebenen: Da folgen Anspielungen auf den Science-Fiction-Film „Matrix“ auf Herman Melville, Hinweise  auf Dune, den Wüstenplaneten aus den Romanen von Frank Herbert, auf Dante Alighieri.

Streckenweise Coming-of-age-Roman eines Sonderlings, analysiert der Roman letztlich ein allgemeineres Immigrantenschicksal: als Absage an den amerikanischen Traum, jemals vollends assimiliert zu werden und die Herkunftskultur hinter sich lassen zu können. Oscar, so diagnostiziert Yunior gleich zu Anfang, werde einem generationenalten dominikanischen Fluch nicht entfliehen, dem „fukú“.

„Wie man es auch nennt oder woher es auch kommt, die Ankunft der Europäer auf Hispaniola soll das fukú auf die Welt losgelassen haben, […]. Santo Domingo mag der Nullmeridian des fukú sein, sein Portal, aber wir alle sind seine Kinder, ob wir es wissen oder nicht.“

Sprachlich Gossenslang, spielt Díaz inhaltlich manchmal mit Volksmythen und lässt einen Hauch magischen Realismus durch das Buch wehen. Die Kolonisierung Amerikas stellt hier eine zivilisatorische Ursünde dar. Sie verfolgt jeden Dominikaner auf ewig; in Santo Domingo habe sich der Fluch in dem Diktator Rafael Leónidas Trujillo Molina konkretisiert.

„Für diejenigen unter euch, die ihre zwei Pflichtsekunden dominikanischer Geschichte verpasst haben: Trujillo, einer der berüchtigtsten Diktatoren des 20. Jahrhunderts, herrschte von 1930 bis 1961 mit unerbittlicher, schonungsloser Brutalität über die Dominikanische Republik […]. Zu seinen herausragenden Leistungen zählen: der Genozid von 1937 an der haitianischen und haitianisch-dominikanischen Gemeinde; […] und die systematische Bestechung von amerikanischen Senatoren.“

…resümiert Yunior da etwa sarkastisch in eigens eingefügten Fußnoten. Ein kluger Schachzug: Díaz liefert dem Leser dadurch die nötigen Geschichtsstunden und erinnert seine Leserschaft daran, dass die US-Regierung das Regime damals gestützt hat. Díaz schildert elegant mit mehreren Erzählern und unterschiedlichen Stimmen mehrere Zeitebenen und verfolgt das Fatum von Oscar Waos Familie immer weiter zurück.

So erfahren wir von Abélard Cabral, Oscars Großvater, der sich weigert, seine junge Tochter dem Sexhunger des Diktators auszuliefern und dafür eingekerkert und gefoltert wird; von Belicia Cabral, seiner Tochter und Oscars Mutter, deren Restfamilie bei seltsamen Unfällen ums Leben kommt, so dass sie fast als Straßenkind aufwächst; von Oscars Schwester Lola, einer Punkrock-Feministin und ihren schwierigen Liebschaften . Fukú, wohin man schaut! Kein Wunder also, dass auch Oscar mehrmals knapp dem Tod entrinnt, bis er seine erste Liebesnacht bei einer Prostituierten genießen darf – zum Schrecken seiner Mutter.

„Weißt Du eigentlich, dass diese Frau eine PUTA ist? Weißt Du, womit sie ihr Haus bezahlt hat? CON CUCLEAR!“

Eine Hure, die ihr Haus mit Geschlechtsverkehr bezahlt habe: Überall streut Díaz den kreativen, aber bisweilen ermüdenden dominikanischen Slang ein, privilegierte die Einwanderer unter den Lesern und ließ den Durchschnittsamerikaner ein wenig hilflos zurück. Den deutschen Lesern hilft wenigstens ein ausführliches Glossar am Buchende. Bildungsroman, Genrestück, Immigrantenliteratur, Slang-Kunstwerk – Díaz hat ein außergewöhnliches Buch vorgelegt.

„Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ von Junot Díaz ist im S. Fischer Verlag erschienen. Es wurde von Eva Kemper übersetzt, hat 384 Seiten und kostet 19 Euro 95.

Rezensiert für die „Buchkritik“ in SWR2.