Fake-News, undurchschaubare Satire, Ehebetrug, Steuerschwindelei, …der Lügen Gewänder sind viele. Wobei es strenggenommen ja immer die anderen sind, die empörenderweise die Wahrheit verschleiern, verdrehen, verschweigen oder komplett ins Gegenteil verkehren. Hobbystalinisten machen dann ihren Wahrheitsfeldzug selbst im Bekanntenkreis. Dabei ist gar nicht so klar, was Wahrheit ist, und selbst wenn, schwindeln wir in vielen Lebensbereichen. Einige Überlegungen dazu, wo uns Wahrheit und Lüge begegnen. Natürlich im Journalismus neuerdings, aber eigentlich im ganzen Leben!

Ja, wir Journalisten haben es in den vergangenen Monaten echt abbekommen. „Pinocchiopresse“ schimpfen Einige, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, und Wahrheit ist hier ausnahmslos, unkonventionell und trennscharf definiert als das Gegenteil der Tagesschau. Hier Lügner, dort wahrheitskündende Münder – so einfach ists nun nicht! Das liegt vor allem daran, dass zwischen Wahrheit und Lüge ein riesiger Graubereich liegt, in dem sich jeder, wenn er sich nicht anstrengt, verlieren kann. Undzwar in jedem Bereich des Lebens.

Allein schon das Abwägen oder gutgemeinte Beschwichtigen kriegt schnell Lügen-Flair. Ob es nun um Straftaten von Flüchtlingen oder den Rechtsruck geht. „Lügenpresse“ oder „Wegschauen“ heißt es dann schnell, auch im Privatgespräch.

Und ja: Gerne präsentieren wir Journalisten manchmal positive Extrembeispiele, nach dem Motto: DAS gibt es übrigens auch noch neben allen Klischees. Denn wir wollen differenzieren. Ausschnitte von Realität werden so angeblich zu Zerrbildern und Lügen. Aber Gesellschaft lässt sich in Kürze nicht total abbilden, nur durch langfristigere Beobachtung. Insofern kann jeder Ausschnitt, jeder Blickwinkel erst einmal als Halbwahrheit wahrgenommen werden, auch wenn die Fakten vorhanden sind und für sich sprechen. Das weiß jeder Richter, der mühsam Zeugen eines Autounfalls vernimmt.

Denn es ist schlicht überall delikat mit Wahrheit und Lüge im außerjournalistischen Kontext.

Fake-News machen gerade die Runde. Oft Gerüchte, die Quelle ist im Netz nicht immer auszumachen, so muss niemand dafür geradestehen. Klar, das meiste davon ist Verleumdung und Hetze, und zu verurteilen. Aber in abgeschwächter Form durchzieht es den Alltag, in jener Form, die der Philosoph Harry G. Frankfurt einst „Bullshit“ nannte: Eine Aussage zwischen Wahrheit und Lüge, die der Redner ein bisschen ins Blaue formuliert und sich nachher nicht drauf festnageln lassen möchte. Wir kennen das alle: „Ich weiß den Weg!“. „Das ist bestimmt Krebs!“ usw. Ein Jahr lang Euros ins Phrasenschweinerl, und wir sind alle pleite.

Dabei war die Lüge bis vor Kurzem noch ganz ok. Geadelt durch Psychologen und Soziologen. Das erlebt man immer noch zu Weihnachten und Silvester. Als Sie natürlich noch ein Stück Gans und ein Stück Torte und ein Glas Sekt vertrugen. Bis zu mehrere hundert Mal am Tage lügen wir so. Für das erhabene Ziel des sozialen Friedens gegenüber erlauchten Menschen wie Schwiegermutti und Saufkumpanen. Als Gegenprobe empfehle ich mal eine Woche ohne Lügen, auch auf so delikate Fragen wie „Schatz, bin ich zu dick?“ Werden Sie dann zur „Lügenfresse“? Kaum, es sei denn, sie pflegten eine ausgeprägte antisoziale Grundhaltung.

Überhaupt die Emotionen, gerade in den sozialen Netzwerken! Da gilt: Hartes siegt über Adäquates! Erst neulich, beim Rückblick 2016. „Katastrophenjahr“, „Untergang“ hackte so mancher in die Facebook-Timelines und Twitter-Feeds. „Katastrophenjahr?!“ Ist die Richterskala der Rage schon ausgereizt? Wie nennt sich dann bitteschön 1939? Bei solchem Wutgeposte geht das Maß verloren und die Wahrheit dazu. Dann werden wir beliebig – und heiser übrigens auch.

Und lügen wir nicht auch im Berufsleben? Nein, nicht nur über unser Gehalt gegenüber Kollegen. Auch ganze Übersetzungslisten mit Phrasen aus Vorstellungsgesprächen ließen sich anlegen:
Wir denken: „Ich will mehr Kohle kriegen!“
Wir sagen: „Ich möchte mehr Verantwortung übernehmen!“
Eigentlich: „Öm, ich werde wohl hier hereinwachsen“
Offiziell: „Klar bin ich qualifiziert!“
Nicht richtige Lügen, eher Fokus-Verschiebungen, Anmaßungen, Nachplappern von Erwünschtem, weil es gar nicht anders geht.

Überhaupt die Modewörter. Zum Beispiel das „Postfaktische“. Angeblich neuartige, gefühlige Kommunikation ohne Realitäts-Check. Das erste Problem dabei: dass das neu sein soll. Sorry. Das gibt es schon seit Jahrtausenden. Man nennt es Religion und Gottesglaube. Etwas prinzipiell Unbeweisbares zu erzählen – klar, keine Lüge. Aber Theorien über Essen, Kleidung und Sex darauf aufzubauen – auch nicht ganz wahrhaftig und das zweite Problem dabei. Es bleibt eine Verwechslung von Glauben und Wissen.

Schon komisch – alles Mögliche wollen wir belegt haben: Nussspuren im Müsli, Herstellungsländer von T-Shirts, den Feinstaubausstoß unseres Autos…  Aber Behauptungen über Götter nicken wir unbewiesen ab? Und da ist er wieder, der soziale Kitt: Vielleicht ist uns dankenswerterweise hier die Toleranz im Alltag wichtiger. Anstatt bis zum Sankt-Nimmerleinstag über die einzig wahre Religion zu diskutieren. Und im Zweifelsfall am Ende die Irrgläubigen in schwere Depressionen zu stürzen, so wir die absolute Wahrheit wirklich herausfinden. Wenn die armen Irrgläubigen das dann überhaupt hören möchten.

Denn ganz ehrlich: Belügen wir uns nicht auch ständig selbst? Eine Fülle von Umfragen belegt Aussagen nach dem Motto: Mehr als die Hälfte von uns denkt, sie sei intelligenter, erotischer, toleranter und so weiter – als die dümmere, plumpere, intolerantere Hälfte der Bevölkerung. Kann rechnerisch nicht hinkommen. Ist aber vielleicht ganz nützlich, sich ein wenig zu überschätzen, um nicht vollends unmotiviert im Bett zu verhungern.

Und ist das Nützlichste nicht eine Notlüge? Stellen Sie sich vor, ein kleiner Junge klingelt bei Ihnen und flüchtet sich in Ihr Wohnzimmer. Gleich darauf kommt eine Horde jugendlicher Schläger und fragt, ob ihr Opfer gerade bei Ihnen Zuflucht suche? Wer wollte da nicht lügen, außer ganz radikalen Pflichtethikern? Lügen kann sogar positiv sein!

So sieht es also aus: Begrenzte Blickwinkel, Verkürzung, Verschleierung, Selbstvergackeierung, Weigerung, zu urteilen, Höflichkeitslügen, Notlügen. Einerseits können wir fast nicht ohne. Andererseits ist das keine Entschuldigung. Weder für Journalisten noch für den Rest der Menschheit. Das Grau zwischen Wahrheit und Lüge ist halt dreckig. Es aufzuhellen unser aller Lebensaufgabe: Durch Blickweitung, Nachfragen, Selbstbefragung, klares Urteil, Einfordern von Gründen und Belegen.

Für die „Matinee“ in SWR2.