Geboren 1981, Preise für einen Roman, außerdem Diskussionen um seinen Essay „Das intensive Leben“ – Tristan Garcia gilt in seiner Heimat Frankreich als philosophischer Shootingstar. Nun schreibt er über menschliche Gemeinschaften. Es dürfte nicht allen gefallen, was er über das „Wir“ enthüllt. 

Tristan Garcia hat ein Händchen für die Themen der Zeit. Wo sich die Gesellschaften im Westen gerade aufspalten in linke und rechte Lager, will er nun vor jenem falschem Idealismus warnen, der gerade bei Diskussionen um Identität und Gemeinschaft zu hören ist – undzwar in einer einfachen Sprache, die nichtsdestotrotz die Anstrengung der Abstraktion auf sich nimmt.

Unsere Situation heute ist ohnehin ein Durcheinander: Viele Kategorien, die einst Identität stifteten, haben sich als fundamentlos und begrifflich wirr erwiesen: Die Kategorie „Geschlecht“ ist durch Homosexuelle, Zwitter und Transmenschen aufgeweicht. Das Konzept „Rasse“ lässt sich wissenschaftlich gar nicht belegen. Ähnlich undeutlich zeigt sich der Begriff der sozialen Klasse. Heißt das, wir haben uns im 21. Jahrhundert von den Ketten dieser schematischen Gruppen-Identitäten befreit? Keineswegs, argumentiert Garcia: Ungleichheiten, gerade auch ökonomische, bestehen immer noch zwischen den verschiedenen Gruppen, wie immer man die Gesellschaft auch einteilen mag.

Verwirrender aber sind die ständigen Verhedderungen zwischen vielerlei „Wirs“, denen jeder Einzelne von uns angehört. Ist nun ein armer Weißer privilegierter als ein reicher Schwarzer? An solchen Beispielen veranschaulicht Garcia, wie heiße politische Diskussionen funktionieren: Je nachdem, welchem Identitätsmerkmal man Priorität einräumt – Einkommen oder Hautfarbe – wird man anders beurteilen, wer nun benachteiligt ist und wer nicht. Politik, das heißt, solche unterschiedlichen Identitätsfolien zu bevorzugen oder zu vernachlässigen.

Und noch verwirrender wird es, wenn sich die Bewertung eines Wir umkehrt. Einstige Befreiungskämpfer finden sich plötzlich als Angeklagte wieder: Feministinnen kämpften einst für die Freiheit der Frauen und gelten plötzlich als kulturelle Rassistinnen, weil sie Muslimas die Burka verbieten wollen.

Garcias Grundüberzeugung lautet: So funktioniert die Struktur des Wir! Unentwirrbare Identitäs-Cluster, in denen wir immer gefangen und aufgeteilt sein werden. Wir werden nie in einer harmonischen Weltgemeinschaft voller ähnlicher Individuen leben, so sehr davon auch immer wieder geträumt wird, vom Christentum, vom Kommunismus oder den Fans offener Grenzen. Denn ein solches Menschheits-Wir wäre schlicht blass und würde keinerlei Identität mehr stiften, argumentiert Garcia mit Sigmund Freund und Arnold Toynbee: Meist überdehnen sich solche allgemeinen sozialen Identitäten, es kommt unweigerlich zu Grabenkämpfen und Zerfall. Ein tragfähiges „Wir“ ist kleiner als die Menschheit.

Das klingt abstrakt, aber lehrt uns hierzulande viel darüber, warum die linken Strategien gegen erstarkende rechte Tendenzen so naiv, ja, Rohrkrepierer sind: Womöglich schätzen Menschen Gruppenidentitäten und Heimat mehr als abstrakte Apelle zu Menschenliebe gegenüber Fremden und Geflüchteten. Ein „Wir“ braucht immer ein „Sie“ als Kontrastfolie – das beweisen selbst linke Demonstranten dieser Tage, die in einem Satz für weltumspannende Liebe und gegen den politischen Gegner argumentieren können. Das traurige, aber unvermeidliche Paradox des „Wir“, das von außen vielleicht sogar heuchlerisch wirkt.

Obwohl elegant geschrieben und gut übersetzt, stört der manchmal manierierte Jargon im Buch dann doch. Oft denkt man an soziologische Termini, die viel schärfer sind als die relativ alltagssprachlichen, eingeführten Begriffe. Und für das Raunen von der „ektoplasmatischen Form des Wir“ hält die Linguistik den Begriff der Deixis bereit – also die kontextabhängige Bezugnahme durch Ausdrücke wie „Du“, „hier“ oder „heute“.

Am Ende bietet uns Garcia leider keinen Ausweg aus den Fallstricken und Paradoxien des Wir. Der Autor rät nur bescheiden dazu, dass wir unsere Unterschiede bejahen, ohne Hierarchien zwischen uns zu etablieren. Das aber widerspricht seiner These, jegliche Hierarchien zwischen Gruppen ließen sich prinzipiell nicht ausmerzen. Als echter Philosoph gibt Garcia keine Antworten, aber hilft, minutiös zu verstehen, was an den derzeitigen Diskursen um politische Lager, um Identität und Diskriminierung so unauflöslich irritierend ist.

Tristan Garcia: Wir. Wurde aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Kunzman, hat 332 Seiten und kostet 28 Euro.

Für die SWR2 Lesenswert Kritik.