Vermag das Schreiben eigentlich irgendetwas gegen den Tod auszurichten? Diese Frage stellt sich Delphine de Vigan an einem Januarmorgen, als sie ihre 61jährige Mutter in deren Wohnung tot im Bett findet.

Hier spart die Autorin nicht mit Details, beschreibt die blassblaue Haut mit tintenartigen Flecken, den starken Geruch und ihr eigenes, minutenlanges Schreien über den Selbstmord. Ihn will sie in der Folge schreibend verstehen und interviewt Verwandte, transkribiert alte Tonbänder und Videos der Familie, gräbt sich in die hinterlassenen Tagebücher und Briefe ihrer Mutter Lucile ein, um in Folge deren Leben chronologisch zu schildern.

„In diesem Buch ist auf eine gewisse Weise alles wahr. Ich wollte so wenig wie möglich erfinden. Trotzdem musste ich kleine Details erdichten, das erfordert die Logik des Erzählens in vielen Szenen, selbst, wenn die Brüder und Schwester meiner Mutter mir viel erzählt haben. Einfach, damit dieses Buch tatsächlich ein Buch wurde.“

So werden die 50er und 60er Jahre lebendig, in denen Lucile mit insgesamt 8 Geschwistern in Paris aufwächst. Eine Fülle von möglichen Gründen für den Selbstmord tritt zutage. Da ist die Lucile, die einen Bruder durch einen Unfall verliert und sieht, wie die Trauer heruntergeschluckt wird. Eine Lucile die, als die Familie ein weiteres Kind aufnimmt, ahnt, dass jeder Mensch ersetzbar sei. Da ist ihr Vater, der für seine pickligen Teenagerkinder tödliche Metaphern findet und Lucile vielleicht missbraucht hat. Ein Bruder hat sich getötet, eine Schwester konnte noch davon abgehalten werden, ein guter Freund erschoss sich. Luciles frühe Schwangerschaft, ihr Drogenkonsum, ihre Psychiatrieaufenthalte, Paranoia-Attacken, Neuroleptika…Es ist eine brutale Serienlogik von Schicksalsschlägen, an die sich de Vigans unprätentiöse Sprache, hervorragend von Doris Heinemann ins Deutsche übersetzt, leise herantastet. Für die Autorin bedeutete das Buch Alpträume und Schreibblockaden.

„Ich brauchte zwei Jahre für das Buch. Das erste für die Recherche, das zweite zum Schreiben. Immer wieder mit Unterbrechungen, bis ich wieder weiterschreiben konnte. Ich hatte mir nicht vorgenommen, meinen Schreibprozess im Buch zum Thema zu machen. Ich glaubte, ich könnte das Leben meiner Mutter einfach von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod erzählen. Aber manchmal widersprachen sich die Erzählungen in meiner Familie, ich musste das alles zusammensetzen, das war nicht einfach. Ziemlich schnell merkte ich, dass ich die moralischen Probleme des Schreibens bei diesem Stoff nur lösen konnte, wenn ich mein Schreiben zum Thema machte. Es war keine ästhetische Haltung, denn als Leserin mag ich so etwas nicht.“

Das Schreiben vermöge nichts, allenfalls Fragen ließen sich stellen, allenfalls Annäherungen seien möglich in einer Familie, in der Worte so viel zerstört hätten und das Schweigen so übermächtig war: Mehrfach steht diese Erzählung vor dem doppelten Abgrund des Unverständnis und der Sprachlosigkeit. Zum Ende hin wird es lichter, wenn Lucile sich zu einem Diplom in Sozialarbeit aufrafft, sich engagiert ins Arbeitsleben stürzt, sich mit Freunden umgibt; auch ihre künstlerische Seite, ihre schriftstellerische Neigung lernen wir schätzen. Doch dann bekommt sie Krebs, die Schatten der Depression holen sie wieder ein.

„Das Buch hat mir geholfen, ihren Selbstmord zu verstehen. Faktisch ist jedoch das Intimste nicht im Buch. Ich wusste, dass es veröffentlicht werden würde, also habe ich geschrieben, was veröffentlicht werden konnte. Es gibt viele Dinge, die ich nicht geschrieben habe! Leben und Schreiben sind hier zwei verschiedene Dinge. Am Ende gehören die Krankheit und der Entschluss zum Selbstmord allein meiner Mutter, sie allein hütet diese Geheimnisse.“

Darin liegt die ergreifende Wirkung dieses Buches: An der Mutter Schichten von Geheimnissen abzutragen, biographisch zwingende Gründe freizulegen, ohne Lucille jedoch nackt, determiniert oder würdelos zurückzulassen. Vielmehr ändert sich die Blickrichtung: Einer von Lucilles Psychiatern bemerkt zum Schluss, die Frage sei nicht, warum sie sich umgebracht habe, sondern, wie sie alles so lange aushalten konnte. Der Selbstmord verliert den Hauch des Scheiterns und gerät zum ultimativen Akt der Selbstermächtigung. Lucile entschied sich, zu sterben, als sie sich am lebendigsten fühlte. Erst jetzt versteht der Leser das dem Buch vorangestellte Zitat des Malers Pierre Soulages, der einmal eine Leinwand komplett schwarz malte: „Mein Werkzeug war nicht mehr das Schwarz, sondern dieses geheime, aus dem Schwarz kommende Licht.“ Diese Kunst der indirekten Darstellung ist der Autorin eindrucksvoll gelungen. So regiert ein hoffnungsvoller Ton am Ende, auch, weil Delphine de Vigans Projekt auf ihre Familie ausstrahlte.

„Meine Verwandten haben das Projekt zunächst mit gutem Willen und Enthusiasmus augenommen, waren dann beunruhigt. Ich glaube, für einige ist das Buch sehr schmerzlich. Einige sind damit einverstanden, andere nicht. Letztlich aber haben alle meine Arbeit respektiert. Und mich hat es der Familie wieder nähergebracht, auch meine Verwandten haben wieder begonnen, untereinander zu telefonieren und sich zu treffen.“

Das Schreiben also vermag am Ende doch eine ganze Menge.

Delphine de Vigan: „Das Lächeln meiner Mutter“ ist bei Droemer erschienen und wurde von Doris Heinemann übersetzt. 384 Seiten kosten 19 Euro 99.