Wenn ein solcher Gelehrter behauptet, dass Jesus zu Lebzeiten keineswegs als Gottessohn galt, dann ist das nicht dahingesagt: Geza Vermes, 1924 in Ungarn geboren, war der erste Professor für Jüdische Studien an der Universität Oxford und leistete Bahnbrechendes auf dem Gebiet der Forschung über den historischen Jesus.[divider style=“e.g. blank, dotted, solid, double“ padding_top=“0″ padding_bottom=“0″][/divider] Einmal durch „Jesus der Jude“ (1973) vor mehr als 40 Jahren, dann durch zwölf weitere Bücher zu verwandten Themen. Bekannt ist Vermes auch als Pionierforscher der Schriftrollen von Qumran. Hineingeboren in eine jüdische Familie, die zum Katholizismus konvertierte, teilweise im KZ umkam, wurde Vermes christlicher Priester, wandte sich aber später als Forscher wieder seinen jüdischen Wurzeln zu. Kurz vor seinem Tode fasste er den Entschluss, nachzuzeichnen, wie Jesus von einem jüdischen Prediger zum christlichen „Gott“ auf dem Konzil von Nizäa im Jahre 325 wurde, das das christliche Glaubensbekenntnis festlegte. „Vom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas“ heißt denn auch folgerichtig das nun auf Deutsch erschienene Werk.

Vielen ungelehrten Christen erscheint die Bibel noch immer aus einem Guss: Das Alte Testament kündigt den Messias an; das Neue Testament berichtet konsistent von seiner Ankunft und seinem Wirken, egal, wo man es aufschlägt. Nichts könnte falscher sein, belegt Geza Vermes minutiös, indem er die Umbrüche nachzeichnet, die Jesus erst nachträglich zu Christus machten. Vermes‘ Quellen sind das Neue Testament, zum Teil Apokryphen, die Schriftrollen von Qumran sowie die herausragenden Theologen bis zum Konzil von Nizäa im Jahre 325.

„Der nebulöse Kreis der Spekulation schloss sich um eine Gestalt, die trotz des verbalen Zugeständnisses ihrer Menschlichkeit immer mehr als transzendenter Gott denn als wahrer Mensch aus Fleisch und Blut wahrgenommen wurde.“

Liest man die Quellen ihrer Entstehungsgeschichte nach, so erweisen sich zahlreiche christliche Dogmen als nicht jesuskompatibel:

Als Gottessohn sah Jesus sich nicht; der Titel ist eher eine damals geläufige Bezeichnung von Propheten, Heilern, Exorzisten. Die Rede vom „Vater“ ist ebenfalls uralt. Jesus sah sich als Jude, nicht als Begründer einer neuen kosmopolitischen Weltreligion für allerlei Heiden; seine Bewegung galt ihm und den Zeitgenossen als Untergruppierung des Judentums. Auch Jesu Jünger gingen nach der Kreuzigung wie selbstverständlich noch in den Tempel.

„Dass ein Nichtjude ihr Glaubensgenosse wird, war für die ersten Anhänger der Jesusbewegung kaum vorstellbar.“

Das Abendmahl – ein nettes Gemeinschaftsessen, das erst später zur Nachahmung von Jesu Henkersmahlzeit wurde. Das Reich Gottes: Bald bevorstehend, ehe es dann doch nicht kam, nicht mehr unmittelbar erwartet wurde und immer abstrakter beschrieben wurde. Die Taufe: ein Reinigungs- und Umkehrritual und erst später der Nachvollzug von Jesu Auferstehung. Die Idee der Kirche: fehlt völlig. Mit Paulus beginnen die meisten dieser großen Ritualumdeutungen. Zugleich spricht die Bewegung hellenistische Heiden an und möchte sie mit philosophischen Argumenten überzeugen. So wird Jesus im Jahre 100 zum Logos, zum Fleisch gewordenen Wort:

„Der bemerkenswerteste Beitrag des Johannes zur weiteren Entwicklung des Christentums besteht in einer eindeutigeren Verkündigung von Jesu Göttlichkeit als sonstwo im Neuen Testament. In den synoptischen Evangelien würde man nach einer solchen Aussage vergeblich suchen.“

Die Entwicklung wird an Fahrt aufnehmen und Jesus schlussendlich auf dem Konzil von Nizäa umdeuten: zum Gottessohn, ewig als Teil der Trinität dagewesen, anbetungswürdig wie Gott selbst. Nüchtern zeigt Vermes immer wieder, dass frühere Positionen damit quasi Häresie gewesen sein müssten: Noch Paulus betete nicht Christus an, nur Gott. Noch der Evangelist Johannes sah Jesus als zweitrangig hinter dem Herrn an. Dass das christliche Glaubensbekenntnis 325 mit Christi Ebenbürtigkeit zu Gott aufwartet, verdankt sich nicht einer Rückkehr zu Jesus, sondern: einem jüdisch-hellenistischen Ideenmix, einer poetischen Allegorisierung, einer nachträglichen philosophischen Durchdringung, zuletzt aber dann einem argumentativen und politischen Geschacher auf dem Konzil.

Mit den zentralen Lehren hätte alles ganz anders kommen können. Und auch für kleinere Gewissheiten hält Vermes verschmitzt ein Erschütterungspotential bereit.

„Römisch katholische Christen, die an den Gedanken eines zölibatären Klerus gewöhnt sind, mag überraschen, dass mangelnde Eheerfahrung in der paulinischen Kirche als Ausschlussgrund für das Bischofsamt galt. Als Kandidaten kamen nur einmal verheiratete Männer infrage […]. Wer seiner Familie vorzustehen und seine Kinder großzuziehen verstand, bewies damit seine Fähigkeit, nach der Herde zu sehen. Merkwürdigerweise hätten der bekennende Junggeselle Paulus und in dieser Hinsicht sogar Jesus die Aufnahmeprüfung für das edle und schwierige Amt des Bischofs nicht bestanden.“

Überhaupt belegt das Bischofsamt an sich, dass angesichts des ausgebliebenen nahen Weltendes eine Kirchenverwaltung nötig wurde. Von Jesu Prophezeiung des sehr bald kommenden Gottesreichs hatte man sich bald mit fadenscheinigen Argumenten verabschiedet.

Das englische Original blieb nicht ohne Reaktionen von höchstem Range. Die renommierte Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong monierte, Vermes unterstelle Manipulation, wo christliche Theoretiker einfach nur das Wunder der Trinität fassen wollten – mit damals immer ausgefeilteren Argumenten. Eine akademische Kritik, die an der klar belegbaren Entwicklung des Jesus zum Christus jedoch nicht zu rütteln vermag. Die außerdem herunterspielt, wie die Kirche den Blick verstellt auf einen Menschen aus Fleisch und Blut, auf eine relativ antitheoretische Religion des Herzens.

„Von Nizäa bis in die Reformationszeit und darüber hinaus war das Christsein in erster Linie von intellektueller, ja philosophischer Beipflichtung bestimmt, vom Festhalten am rechtgläubigen Dogma der Kirche.“

Der englische Bischof Rowan Atkinson monierte: Vermes könne nicht zeigen, was die Faszination und das Neue an Jesus hinter all den Diskurswechseln ausmache. Das aber klingt wieder, als wolle Atkinson die Geschichte eben von hinten lesen. Er will Vermes‘ Argumentation schlicht nicht ernstnehmen.

Weniger für Fachleute der „Leben-Jesu-Forschung“, aber für die institutionalisierte Religion und den einfachen Gläubigen ist dieses Buch eine ungeheure Provokation. Geza Vermes erinnert deshalb zum Ende hin besänftigend an die Renaissance, die sich der Bibel neu zuwandte und den Protestantismus hervorbrachte. Damals wie heute eine Revolution.

„Es scheint, als habe sie nun ein Stadium erreicht oder würde es demnächst erreichen, wo abermals eine Erweckung erforderlich ist, eine neue ›Reformation‹, die sich voller Inbrunst der reinen religiösen Vision und dem Enthusiasmus Jesu zuwendet, des jüdischen charismatischen Boten Gottes, und nicht der vergöttlichenden Botschaft, die Paulus, Johannes und die Kirche mit ihm verknüpft haben.“

Das Christentum als verdrehte jüdische Sekte. Es ist eine einzigartige, wenngleich auch uralte narzisstische Kränkung. Christen sollten sie nicht eilfertig abtun als Werk eines narzisstisch gekränkten Juden, der verbockt die Sache mit dem Messias Jesus Christus leugnet. Sie fielen damit in allzu alte Muster des Frühchristentums zurück, mit seinem charakteristischen Antisemitismus.

Vielmehr noch: Wer die Jahrhunderte währende Evolution der menschlichen, allzumenschlichen Religionsverfertigung verfolgt, dem werden religiöse Wahrheiten insgesamt unwahrscheinlicher. Wie weit der Leser deshalb über Vermes hinausgeht und Agnostiker wird, muss er selbst entscheiden. Die Lektüre lohnt in jedem Fall: Unaufgeregt, hochgelehrt, nah an den Quellen, in einfacher Sprache und mit klarer Argumentation.

Geza Vermes: Vom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas. Das Buch wurde von Klaus-Jürgen Thornton aus dem Englischen übersetzt und ist im Verlag der Weltreligionen erschienen. 383 Seiten kosten 34 Euro.

Für „Forum Buch“ in SWR2.