… so nennt sich David Grossmans neues Buch, eine Mischung aus Drama und Langgedicht. Hier verarbeitet der Autor zum ersten Mal öffentlich den Tod seines Sohnes Uri.

Vor allem für seinen Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ (deutsch 2009) erntete David Grossman großes Lob in Deutschland. Kritiker wie Leser zeigten sich tief beeindruckt von der Geschichte über eine Frau, die vermeiden will, dass ihr die Botschaft vom Tode ihres Sohnes im Militäreinsatz überbracht wird. Bei der begeisterten Rezeption spielte es sicherlich auch eine Rolle, dass das Werk und das Leben des Autors auf tragische Weise ineinanderliefen: Gerade als Grossman am Manuskript arbeitete, fiel sein Sohn Uri im Libanon. Das neue Buch ist noch mehr als das alte eine konzentrierte Auseinandersetzung mit dem Tod eines Kindes.

Wenn ein Autor seinen Sohn verliert, noch dazu im Kriegseinsatz, im Nahostkonflikt, und das schriftstellerisch verarbeitet, dann sind die Gefahren groß: Schnell kann das kippen in Agitationsliteratur oder in eine Selbstausweidung, die wahlweise kitschig oder abstoßend narzisstisch gerät.

David Grossman entgeht diesen Fallstricken, indem er von Anfang an aufs Universelle, Überzeitliche, genuin Literarische zielt: auf die Erfahrung der Trauer als solcher. Sein Buch bietet kaum bekannte Zeit- und Ortsangaben; alles spielt in einer nicht näher benannten „Stadt“, regiert von einem ebenfalls nicht genauer bestimmten „Herzog“; in der Ferne tobt ein Krieg, der allerdings mit Schwertern geführt wird. Tags und vor allem nachts sendet der Herzog seinen „Chronisten“ aus, um ihm von den Stadtbewohnern zu berichten.

Alle diese Figuren tragen Typenbezeichnungen wie in einem expressionistischen Drama, ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Kinder verloren haben, durch Unfälle, Krankheiten oder Selbstmord. Sie sprechen abwechselnd, oft nicht zu anderen Figuren, sondern zu sich oder direkt zu den Gestorbenen, wie die zentrale Figur des „Mannes“, der seinen Sohn verlor:

„Einmal erzählte mir jemand aus einem fernen Land, dort sage man von einem, der im Krieg umkommt, er sei »gefallen«. so auch du: aus der Zeit gefallen bist du, aus der Zeit, in der ich bin und an dir vorübergeh: bist eine Gestalt, allein am Bahnsteig in einer Nacht, deren schwarz bis zum letzten Tropfen ausgelaufen ist. Ich sehe dich, berühr dich aber nicht. Mit meinen Zeitfühlern spür ich dich nicht.“

Ähnlich ergeht es einer „Netzflickerin“, die sich nachts in ihrem Fischernetz vergräbt; oder der „Hebamme“, die unaufhörlich, verstockt-stotternd von ihrer toten Tochter sprechen muss; oder dem vor Verzweiflung ergrauten „Rechenlehrer“, der getrieben Tafeln beschreibt und kalkuliert, wie alt sein Sohn nun wäre. Für sie alle zerfällt die Welt, erkaltet und erstarrt.

Grossman bleibt nicht bei bloßen Gefühlsschilderungen stehen. Vielmehr analysiert er die Widersprüchlichkeiten der Trauer: So haben der Mann und die Frau zwar ein verlorenes Kind gemeinsam, vereinsamen aber jeweils für sich; der Gedanke an das tote Kind macht jede verbindende, körperliche Liebe unmöglich. Und der Mann fragt sich verzweifelt, wie und ob er angehen soll gegen die langsam erstarrende Erinnerung.

„Immer wieder muss ich dich herausmeißeln aus den Steinhüllen, in denen du steckst, muss mich bemühen, das zu wollen – auch mich selbst herausmeißeln und kämpfen, während doch alles in mir schreit: Lass sein, so ist es besser, […] find dich endlich ab mit seinem Schicksal, erkenne an, dass dies jetzt seine Grenze ist. Doch gleich kommt der Verdacht: Sehn ich mich heimlich schon danach, dass du erstarrst, aufhörst zu bluten?“

Oder wird nur das sprachlose Schweigen der Stille der Toten gerecht, weil es das Geheimnis des Lebens am besten bewahrt? Die Sprache in all ihrer Unfähigkeit, den Verlust zu erfassen, ist ein großes Thema dieses Buches. Seine Form schwankt zwischen antikem Drama und lyrischem Klagelied. Mal schildern der Chronist und der Zentaur als Erzähler in Prosaform, was die anderen tun. Oft aber sprechen die Figuren in plötzlich endenden Versen. Im hebräischen Original waren die Zeilen vielfach noch kürzer als in der deutschen Übersetzung, klärt die Übersetzerin Anne Birkenhauer in ihrem Nachwort auf. Sie vollbringt das Kunststück, einerseits den lyrischen Ton zu übersetzen und andererseits das Abgehackte der Sprache, die Versabbrüche zu übertragen.

„…unmöglich, dass wir
dass die sonne die uhren und die Geschäfte der Mond die Pärchen dass die Bäume in den Alleen grünen
dass Blut in den Adern
dass Frühling und Herbst
dass Menschen ganz arglos
dass es ein »einfach so« gibt, auf der Welt
dass Kinder von andern
dass ihre Wärme und ihr Licht…“

Dass insgesamt nur hin und wieder explizit persönliche Erfahrungen des Autors durchklingen, verwundert nicht. David Grossman hat letztes Jahr keinerlei Kommentar zum Buch abgegeben, erläutert das Nachwort. 2012 erschien das Buch im hebräischen Original. Man muss sich vor Augen halten, dass hier ein Autor, anders als ein privater Tagebuchschreiber, Lesern und Journalisten sein Leiden offenbart, insbesondere auf Lesungen soll er seinen Zustand dann wiederholt beschreiben und kommentieren; so vermutlich vielfach geschehen nach Erscheinen von Grossmans Buch „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“. Der neue Text beschreibt nun die Widersprüchlichkeit dieser Rolle. So taucht ein trauernder „Zentaur“ auf, ein mit seinem Schreibtisch verwachsener Schriftsteller, der sich dem Chronisten der Stadt verweigert.

„Aber sag doch selbst: ist es nicht ein enormes Glück, dass du im Rahmen deiner Arbeit und gewiss gegen angemessene Bezahlung, so viel du willst, in die Hölle anderer Leute linsen kannst, ohne dort auch nur deinen bleichen kleinen Finger reinstecken zu müssen? Überleg mal! Was ist erregender als die Hölle anderer?“

Doch der Zentaur gesteht nicht nur, schreiben zu müssen, um „all das zu kapieren“. Nein – nach nur wenigen Zeilen ruft er dem Chronisten zu:

„Und jetzt geh, ich fleh Dich an, geh. Aber komm zurück, ja? Du kommst doch wieder? Wann? Morgen?“

Das Eingeständnis eines Klagenden, der das erlebnissüchtige Gegenüber eben doch als Gesprächspartner braucht. Beschämend in seiner schreienden Offenheit, vor allem für denjenigen Leser, der merkt, dass er, sensationsgeil, konsumierbaren Trauerporno erwartet hat.

Nichtsdestotrotz geht es ein wenig plakativ bis ins schwarze Herz der Finsternis. Dann schaufeln sich die Hinterbliebenen Gräber und legen sich in die kalte, feuchte Erde, so sehr sehnen sie sich selbst nach dem Tod. Doch finden sie am Ende aus dem Loch heraus: Sie entkommen ihrer Einsamkeit und gehen gemeinsam um die Stadt. Sie lernen, den Schmerz von der Erinnerung an den geliebten Menschen zu trennen und den Tod als Aufruf zu einem tieferen Leben zu verstehen.

„Ich habe nicht gewusst, dass Leben in seiner ganzen Fülle nur dort, an dieser Grenzlinie besteht. Es ist, als hätte ich noch nie gelebt, als sei nichts, was mir je geschah, wirklich geschehn, bis du, mein Mädchen, bis du starbst-“

…bemerkt zum Beispiel die Frau des Chronisten. Alle diese Erkenntnisse vollziehen sich im heilenden Medium der Sprache, so unlogisch, erstarrt oder klischeehaft sie den Figuren auch vorher erschienen sein mag. Eine hinreichend leidensgesättigte Lebensklugheit spricht aus diesem Buch. Die Trauer kann vergehen. David Grossmans Buch bleibt.

David Grossman: „Aus der Zeit fallen“. Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer. Das Buch ist im Hanser Verlag erschienen, hat 128 Seiten und kostet 16 Euro 90.