Raphaela Edelbauer erzählt von einem österreichischen Dorf, das langsam von einem Loch verschlungen wird. Eine Großmetapher, die funkelnd, surreal und kafkaesk so unterschiedliche Themen wie Vergangenheitsbewältigung, Zeitphilosophie, Märchen zusammenbinden kann, aber auch seine Längen hat.

Raphaela Edelbauer ist 1990 in Wien geboren und hat sich schon mit wagemutigen Themen beschäftigt: In ihrem Debut „Entdecker“ zeigte sie, dass sich Sprache als Grundstruktur des Universums auffassen lässt. Sie las 2018 auf den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt und legt nun den Roman vor, aus dem diese Passage ausgekoppelt war: „Das flüssige Land“, das es sogleich auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte.

Ein Roman voller Physik, Metaphysik, Märchen, österreichischer Vergangenheitsbewältigung… Dazu noch als moderne Aventiure in eine phantastische Gegenwelt beschrieben, inklusive Identitätssuche einer ziemlich derangierten Protagonistin… funktioniert das? Ja, denn Raphaela Edelbauer konstruiert ihren Roman „Das flüssige Land“ um ein zentrales Motiv herum, das all das zusammenhalten kann: ein Loch, das ein ganzes Dorf zu verschlingen droht. Ein Loch, das sogar erst später im Roman auftaucht, ihn dann aber beherrscht.

Denn zunächst fällt die Heldin Ruth im Jahre 2007 aus der Zeit: Gestresst durch die Habilitation in Zeitphilosophie, vollgepumpt mit Psychopharmaka, muss sie erfahren, dass ihre Eltern in der Provinz tödlich auf der Landstraße verunglückt sind. Besessen von dem Gedanken, sie in deren Heimatort zu beerdigen, findet sie dieses mystisch-mythische „Groß-Einland“ zunächst nicht, bis sie wie durch ein Raum-Zeit-Portal im Wald dorthin gelangt.

Ein surrealer, kafkaesker Ort: Menschen haben mehrere Namen zugleich, Nachtwächter erteilen widersprüchliche bis dämliche Befehle, ein Mörder läuft wegen eines Verfahrensfehlers der Justiz seit Jahren frei herum, eine Industrielle hat die Alte, ständische Ordnung wiederhergestellt, indem sie sich zur „Gräfin“ aufgeschwungen hat und die Politik im Dorf gutsherrenartig kontrolliert. Raphaela Edelbauer sieht sich hiermit nur bedingt in der Tradition der böse giftenden Autoren von Anti-Heimatromanen:

„Groß-Einland ist eigentlich ein absolut übersteigertes Medley verschiedener österreichischer Orte! Meine absolute Lieblingsschriftstellerin ist Elfriede Jelinek und ich glaube, dass man da schon einen Einfluss dessen sehen kann, wie hart ich mit der Landbevölkerung in irgendeiner Weise ins Gericht gehe. Aber auf der anderen Seite gerade dadurch, dass es so überzeichnet ist, glaube ich, signalisiert es dem Leser auch immer wieder, dass da schon Ironie intendiert ist!“

Schließlich ist Ruth selbst eine zutiefst gebrochene Figur, die sich nicht recht über die Dörfler erheben möchte, sich verwundert einlebt, einfügt und neugierig und belustigt auf diese Mini-Alpenrepublik schaut, die – vom Untergang bedroht ist! Denn im Ortskern klafft ein Loch, das zu einem alten Minensystem führt. Und das lässt das Dorf langsam einsinken.

Raphaela Edelbauer macht dieses Loch zur schillernden Großmetapher: Es steht für die Leere, um die eine überzuckerte Kitschkultur österreichischer Prägung kreisen mag. Es durchzieht die Geschichte Groß-Einlands, das die Natur seit Langem ausgebeutet hat und nun die Quittung bekommt. Es zeigt – in einem plötzlich sehr bedrängenden Erzählstrang – wie die Dorfgeschichte verdrängt wird: Offensichtlich hat man während der Nazizeit Zwangsarbeiter im Loch wie Abfall entsorgt… Details, die aus Raphaela Edelbauers realem Heimatort Hinterbrühl stammen:

„Das hab ich ja versucht, mehr oder weniger organisch in ein Ganzes einzuweben. Dieser Vorfall mit den Arbeitern war inspiriert durch meine eigene Heimatgemeinde und ich wusste das nicht als Teenager. Ich bin ja erst mit 24, 25 draufgekommen und, schockiert durch diesen Anlass, habe ich mich dann eigentlich dazu entschlossen, das miteinander zu verweben sozusagen. Wo Landschaften quasi zu einer Art Emblem werden für das, was die Ahnen getan haben mit dieser Landschaft. Und das ist in der österreichischen Literatur auch ein sehr bekanntes Motiv. Und ich habe etwas ganz Ähnliches versucht, glaube ich.“

Man fühlt sich an Hans Leberts Parabel „Die Wolfshaut“ erinnert, einen österreichischen Klassiker, und gleich darauf an die größenwahnsinnige Parallelaktion in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“: Denn das Dorf will das Loch in einer gigantischen Kunstaktion mit einer Chemikalie endlich ein für alle Mal zukleistern. Diese Füllmasse soll die Physikerin Ruth herstellen, doch die sammelt längst Beweise in Sachen Kriegsverbrechen, die sie veröffentlichen will… Es ist schier unmöglich, hier vollständig auszuführen, womit Edelbauer dieses Loch metaphorisch anreichert: detaillierte regionale Sagen, Volks- und Kunstmärchen romantischer Prägung, Mythen der australischen Ureinwohner, Einschübe zur Zeitphilosophie, Fakten zur Statik… Raphaela Edelbauer beschreibt ihre Ästhetik folgendermaßen:

„Prinzipiell glaube ich, dass Wissenschaft kein anderes Unternehmen ist, als Kunst auch. Ich würde das niemals gegeneinander streng abgrenzen können. Ich glaube, dass es naturwissenschaftliche Werke gibt, die von einer poetischen Schönheit sind, die das Gros der Lyrikbände hinter sich lassen könnte und ich glaube auch gleichzeitig, dass es literarische Werke gibt, die tiefe Wahrheiten über unseren Kosmos offenbaren. Deswegen möchte ich da eigentlich keinen Trennungsstrich ziehen.“

„Das flüssige Land“ ist sehr hochambitioniert, was die Triebkraft der Handlung streckenweise dann doch leiden lässt. Traumlogisch wabert diese Welt voran, in der es kaum Uhren, kein Internet und keine Handys zu geben scheint, zuletzt wird nicht klar sein, wieviele Jahre Ruth in dieser Parallelwelt verbringt. Demgegenüber erstaunt es geradezu, wie sich Raphaela Edelbauer als Autorin inszeniert: wie selbstverständlich hochvernetzt auf mehreren Internet-Plattformen! Dazu die Autorin:

„Permanent alleine zu arbeiten, das hat schon ein bestimmtes Flavour. Und ich bin häufig schon sehr sehr dankbar, dass ich noch in irgendeiner Weise zumindest so kleine Snippets davon, kleine Auszüge davon irgendwie online präsentieren kann, um eine Reaktionen zu kriegen oder um vielleicht mir selber zu beweisen, dass ich noch existiere und für die Gesellschaft am Leben bin. Ganz komisch…!“

Schließlich wird Ruth ein klares Statement zu all der Verdrängung im Dorf geben. Hier enttäuscht das Buch ein bisschen durch ein einfaches Ende, das für Ruth allerdings stets im Bereich des Möglichen lag. Vor allem punktet der Roman ohnehin durch seine ungewöhnliche Sprache voller technisch inspirierter Bilder: Wenn Ruth etwa zu Anfang vom Tod ihrer Eltern erfährt, setzt sich „eine kosmische Drehorgel“ in Gang, Mobiltelefone vibrieren im Akkord, Tränen fallen rhythmisch. Ergebnis eines eigenen literarischen Verfahrens, erzählt Raphaela Edelbauer:

„Ich gehe von einer zentralen Metapher aus, von der ich glaube, dass sie etwas aufschließt, das Alltagssprache nicht kann… Und dann beginne ich zu recherchieren: Wort-Felder, semantische Spannungs-Bereiche mit sehr vielen Termini aus diesem Bereich, die ich dann in weiterer Folge einsetze. Also ich bleibe dann in einer losen, metaphorischen Wolke, die ich ausdehne.“

Selten baut und beutet ein Buch seine zentrale Idee so vielgestaltig aus wie „Das flüssige Land“. Wenn Ruth das Dorf am Ende verlässt, ist man glatt traurig. Zu gerne würde man noch einen weiteren dieser Tunnel erleben – in diesem Gang-Gewirr des Sinns. Und noch einen. Und noch einen…

Rezensiert für das Lesenswert Magazin auf SWR2.