Kann man erhabene Schauer empfinden angesichts der Herrlichkeit des Universums, ohne an Gott zu glauben? Kann man Moral ohne das höchste Wesen begründen? Ja, schreibt Ronald Dworkin in seinem neuen kleinen Brevier mit dem Titel „Religion ohne Gott“, und räumt auf mit der Fiktion vom intellektuell-sadomasochistischen Ungläubigen, der die Welt als Warenhaus oder Zahlenwirrwarr abwertet.

Er war einer der größten Philosophen und Rechtstheoretiker der USA, und mit seinem Tod im Februar 2013 ging also ein herber Verlust für das akademische Leben der USA einher: Ronald Dworkin, Professor in Oxford und Yale, an der New York University, am University College in London, erhielt zahlreiche Preise – seine Biographie liest sich wie ein intellektuelles Guiness‘ Buch der Rekorde. Immer wieder hat Dworkin in aktuelle Debatten eingegriffen und eher linksliberale Positionen wohlbegründet bezogen, ob zu Homoehe, Pornographie-Erlaubnis, Meinungsfreiheit, Abtreibung oder den Fragen zum Verhältnis von Staat und Religion. Gerade in letzteren erwies sich Dworkin als Atheist, der Moral durch Argumente, nicht durch Rückgriff auf Götter oder einen Ideenhimmel fundieren wollte. Sein neuestes Buch nun basiert auf den Einstein-Vorlesungen, die Dworkin 2011 an der Uni Bern gehalten hatte und kurz vor seinem Tod für die Veröffentlichung überarbeitet hatte. Hier will Dworkin die Weltsicht säkularer Humanisten erläutern:

Unter manchen religiösen Menschen hält sich nämlich hartnäckig eine Mär: Die Mär, dass nichtreligiöse Menschen der Entzauberung der Welt quasi sadomasochistisch huldigten und die Welt extra stumpfsinnig und prosaisch wahrnähmen. Damit räumt Ronald Dworkin in seinem kleinen, äußerst dichten Buch gründlich auf. Nein, sagt er, es gebe „religiöse Atheisten“, die geradezu heilig vor der Erhabenheit des Grand Canyon erschauerten, die von eleganten kosmologischen Theorien ergriffen werden und die großen Kunstwerken huldigen. Der Religionsbegriff dürfe nicht beschränkt sein auf Gottesreligionen. Er beziehe sich allgemeiner auf bestimmte Haltungen zur Welt und zur Moral.

„Religion ist etwas Tieferes als Gott – das ist das Thema dieses Buches. Religion ist eine sehr grundlegende, spezifische und umfassende Weltsicht, die besagt, dass ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt, dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten, dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat. Der Glaube an einen Gott ist nur eine der möglichen Manifestationen oder Konsequenzen dieser tieferen Weltsicht.“

Damit holt Dworkin Atheisten oder auch Pantheisten in den Begriff Religion hinein. Den theoretischen Freifahrtsschein für seine Definition hat sich Dworkin freilich eigens ausgestellt: Religion sei ein „interpretativer Begriff“, man könne ihn nur benutzen, indem man gleichzeitig auslege, was er besage.

Wobei sich Dworkin selbst ein wenig verheddert, wenn er das säkulare, dennoch numinose Erstaunen angesichts des Weltalls und der Evolution näher fassen möchte. Denn er kann nicht wirklich sagen, was genau das Universum da schön macht oder was eine physikalische Weltformel elegant wirken lässt: Ist es die Einfachheit? Eine komplexe Symmetrie? Dworkin legt aber plausibel dar, dass eine  bestimmte Erklärung nicht befriedigen kann: Die durch Gott, der halt alles so geschaffen habe.

„Das philosophische Rätsel ist damit noch nicht gelöst, denn was erklärt die Existenz einer solchen Intelligenz? Ist sie purer Zufall? Dann wäre die Existenz von allem nur ein lächerlicher Zufall. Oder gibt es im Gegenteil etwas, das die Existenz Gottes erklärt? Doch dann würde der unendliche Regress losgetreten. Die Wissenschaft der Gottesreligionen muss sich gegen solche Fragen abschirmen.“

Das Universum braucht keinen Gott als Erklärung, um als schön oder sogar naturwissenschaftlich logisch wahrgenommen zu werden. Die physikalischen Formeln sprechen für sich, beziehen sich gegenseitig aufeinander und bilden sozusagen ein Netz von Formeln und Befunden, die sich gegenseitig stützen. Und diese „starke Integrität“ ist der eigentliche Clou bei diesen Überlegungen: So nämlich funktioniert es auch im Bereich der Ethik, argumentiert Dworkin. Werte sind objektiv vorhanden, Werte wie die Menschenwürde und das Folterverbot stützen sich in einem komplexen Netz gegenseitig. Ethische Gewissheit erlangen wir nur durch unser Gefühl der Gewissheit, wenn wir uns befragen und uns bestimmte Grundsätze evident erscheinen. Mehr haben wir nicht. Wobei das strenggenommen viel ist, denn diese Erfahrung von moralischer Evidenz komme dem nahe, was Theologen die Erfahrung des Numinosen nennen.

„Und diese Festlegung steht auch Nichtgläubigen frei. Das bedeutet, dass die Theisten mit manchen Atheisten in etwas übereinstimmen, das grundlegender ist als alles, was sie trennt, und vielleicht den Ausgangspunkt für eine bessere Verständigung zwischen ihnen bilden könnte. […] Vielleicht werden die Angehörigen beider Lager – oder wenigstens viele von ihnen – irgendwann erkennen, dass es sich bei dem, was sie derzeit für eine unüberbrückbare Kluft halten, lediglich um eine esoterische wissenschaftliche Meinungsverschiedenheit ohne moralische oder politische Bedeutung handelt. Ist das eine übertriebene Hoffnung? Vermutlich.“

Aber eine große: Mancherorts verabreden sich verschiedene Fundamentalismen zum gemeinsamen konservativen rollback der Gesellschaft – da tut so ein Buch gut, das zu einer rationalen Debatte über Werte und ihre Begründungen aufruft, anstatt einfach nur auf Traditionen zu pochen. Eigentlich, merkt Dworkin richtig an, sei es absurd, anzunehmen, Werte ließen sich nur durch Gott begründen. Man müsste wiederum darlegen, warum das nur durch Gott geschehen kann. Und Gott kann kaum wollen, dass wir etwas nur tun, weil es ihm mal so gefällt, und nicht, weil es objektiv richtig ist. Ansonsten wäre dieser Gott ein ziemlich hässliches, selbstsüchtiges, naives Menschlein. Oder verstehen wir seine geheimnisvolle Werteschöpfung nicht? Aber woher wüssten wir dann, was wir überhaupt einsehen können? Das Argument von der Rätselhaftigkeit göttlichen Wirkens erweist sich als bloße argumentative Rauchbombe.

„Der Bereich der Werte hängt nicht von der Existenz oder der Wirkungsgeschichte irgendeines Gottes ab – und kann auch gar nicht davon abhängen.“

Was alle wie auch immer ethisch eingestellten Menschen verbindet, ist die Überzeugung, es gebe ein gutes Leben und man könne sich dazu entscheiden. Religionsfreiheit bedeutet dann eigentlich Weltanschauungsfreiheit, Recht auf ethische Selbstbestimmung – sofern das nicht in Rassismus, Sexismus und andere Hasshaltungen abgleitet. Zur Wehrdienstverweigerung muss sich keiner auf einen Gott berufen – es genügt eine pazifistische oder säkular humanistische Haltung. So arbeitet sich der letzte Teil des Buches mit den einschlägigen, typisch amerikanischen Problemen ab: Öffentliche Schulgebete, Homoehe, Abtreibung. Meist optiert Dworkin, schonmal anders als die US-Politik, für die liberalere Position. Aber bleibt sein religiöser Atheismus damit schlussendlich nicht prosaisch? Hier droht kein Gott wirkungsvoll mit dem Höllenfeuer, kein Paradies winkt, keine Unsterblichkeit?

„Wir können dem Tod mit der Gewissheit entgegensehen, dass wir angesichts der größten Herausforderung, vor die sterbliche Wesen gestellt sind, etwas Gutes zustande gebracht haben. Vielleicht genügt Ihnen das nicht – und nimmt Ihnen rein gar nichts von Ihrer Furcht. Es ist aber die einzige Art von Unsterblichkeit, die wir uns ausmalen oder jedenfalls die einzige, die wir überhaupt anzustreben berechtigt sind. Wenn irgendeine Überzeugung religiös ist, dann diese. Sie steht Ihnen offen, gleichgültig, für welches der beiden Lager der Religion Sie sich entscheiden: das mit oder das ohne Gott.“

Das Leben als stimmiges Kunstwerk – ein Rückgriff auf Romantik und Postmoderne. Wahrlich – so fühlen sich säkulare Erhabenheitsschauer an. Es ist traurig, dass Ronald Dworkin diese Überlegungen nicht mehr ausführlicher ausarbeiten konnte. Trotzdem: Mit seinem Brevier für religiöse Atheisten hat er sich auf dem Weg in die Unsterblichkeit gemacht.

Ronald Dworkin: „Religion ohne Gott“ ist bei Suhrkamp erschienen in der Übersetzung von Eva Engels. 146 Seiten kosten 19 Euro 95.

Für SWR2 Forum Buch.