Was heißt es, erwachsen und älter zu werden? Peter Zimmermann schildert das in seinem leisen, existentiellen Buch mal magisch-realistisch, grotesk, nüchtern.

Der österreichische Autor Peter Zimmermann hat sich schon an so manches Genre gewagt: natürlich an den Anti-Heimatroman mit „Das tote Haus“, an Thriller wie „Last Exit Odessa“, an den historischen Roman mit „Die Nacht hinter den Wäldern“, er hat kulturkritische Essays verfasst und nicht mit Kritik an gefeierten Gegenwartsautoren gespart. Geboren 1961 in Villach, hat er an Theatern gearbeitet, war Literaturkritiker für zahlreiche deutschsprachige Medien und ist mittlerweile Literaturredakteur für den österreichischen Rundfunk.

Mit „Der Himmel ist ein sehr großer Mann“ legt Zimmermann nun ein schwer einzuordnendes, kurzes Büchlein vor, in dem es um die Kindheit und den Tod geht. „Der Himmel ist ein sehr großer Mann“ heißt das Buch und schon der Titel deutet die überwältigende, existentielle Dimension an, um die es hier geht.

Viel passiert nicht in diesem kurzen Buch. Ein mittelalter Buchhändler aus einem Provinzdorf in Österreich erlebt die weihnachtliche Stille und erinnert sich: Er sucht in der Winternacht noch einmal seine Geheimverstecke auf, die er früher im Wald hatte: Sehnsuchtsorte, denn dort begegnete ihm in der Kindheit ein weißer Ritter. Einbildung oder Realität? Schwer zu sagen, wo doch die Kindheit in ihrem magischen Realismus diese Trennung nicht kennt.

Zitat: „Schließlich stieg er ab, bedächtig und steif wie mein Vater bei einem Gichtschub. Sein Gesicht war blass und eingefallen, es war das Gesicht eines Kranken, und selbst das nackenlange Haar fiel ihm nicht Prinz-Eisenherz-mäßig über die Ohren, sondern war dünn und grau wie Asche und stand spröde vom Kopf ab. Er sah mehr wie Don Quixote aus, aber ohne das irre Leuchten in den Augen und diesen kastilischen Spitzbart, ihr wisst ja, der heute wieder modern ist.“

Detailreich und fabulierlustig ist das, und doch scheint dieser Ritter von trauriger Gestalt von Anfang an darauf hinzuweisen, dass er irgendwann wieder verschwinden wird – und damit die prosaische Jugend und Erwachsenenzeit einläuten wird.

Zitat: „Am Ende der Kindheit wird man ein anderer.“

…lautet denn auch der zentrale Satz dieses Buches. Dabei lässt sich das Buch schwer in ein Genre einordnen, es scheint vor allem vom Erzählen zu erzählen: Wie der Buchhändler seine Kindheit rekonstruiert, die doch uneinholbar vergangen ist; wie er aus den Lebenserzählungen des Ritters von damals lernen möchte; wie er seine Einsichten über die Vergänglichkeit einigen Jungen weitergeben möchte, die in seinem Buchladen auftauchen; wie sich die hohe Literatur in das Leben einfügt; wie Erzählungen entzaubert werden und urplötzlich ihre Geltung verlieren.

In vielen Motiven knüpft Peter Zimmermann dabei an frühere Veröffentlichungen an: Das Buch ist eine Art Anti-Heimatroman wie „Das tote Haus“, wenn man die transzendentale Heimatlosigkeit hier so versteht. Und so, wie in „Last Exit Odessa“ Menschen verloren gingen, geht hier jedem der Lebenssinn verloren. Wiewohl in beiden Büchern schon das Zurückblicken zentral ist und auch hier ein Erzähler einsehen muss: Wir sind für immer von der Kindheit bestimmt. Oder von ihren Erschütterungen – in diesem Fall davon, die Vergänglichkeit an den Großeltern zu bemerken:

Zitat: „Er hatte angefangen, ihre falschen Zähne zu sehen, wie sie schlecht auf dem Kiefer saßen, und ihre Fürze und den schweren Atem zu hören. Er wollte sich nicht mehr dem Anblick der Verdauungspillen und Hirschtalgdosen, der käsigen Haut mit ihren unzähligen Falten und Haaren und Flecken und den grauen und sandfarbenen orthopädischen Kunstlederschuhen ausgesetzt fühlen.

Das war nichts, was einen anzog. Sie sterben, dachte er, der noch vor Kurzem davon überzeugt gewesen war, sie würden ewig leben, sie fallen aus der Zeit. Er war aus dem Kindheitspanzer gekrochen. Der kleine Bub lag tot in der Erinnerung. Einmal mehr neigte sich über ihn der Himmel wie ein großer Mann im blassblauen Anzug, dessen Stoff an manchen Stellen durchgescheuert war […].“

Zuweilen kippt der Roman ins Groteske, und das ist kein Zufall: Schon im Roman „Last Exit Odessa“ gab es skurrile Details wie eine gestohlene Nudelfabrik oder einen gürtelrosenkranken Gelegenheitsdetektiv, sogar eine seitenlange Kulturtheorie der Defäkation; in „Stille“ schrieb Zimmermann lustvoll ein Roadmovie voller LSD.

Hier nun drosselt der Autor sein Talent: Da erzählt der Ritter aus dem Zweiten Weltkrieg, in dem er Stalingrad miterlebt hat; Menschen sprechen zu Brillen wie zu Lebewesen; und wie in einer Predigt wird die „Einsamkeit des Busfahrers“ als Paradebeispiel einer lächerlichen, leidgefüllten Existenz glossierend dargestellt.

Und eine Kulturtheorie gibt es kurz vom Ritter, eher sind es Klagen über die ewige Wiederkehr des Gleichen und das ahnungslose Mitlaufen als Grundmuster der menschlichen Gesellschaft. Denn am Ende geht es ganz unironisch um die Frage nach dem „Warum?“ im Leben, die der Urgrund allen Leidens ist – das lehrt der Ritter schon früh im Buch. Das „Warum?“ führe statt zu Antworten nur in die Selbstzerfleischung.

Zitat: „Das Leben ist eine wirre Geschichte, keine gut geschriebene, spannende, mit Anfang, Ausführung und Schlusspointe. Von morgens bis abends passiert nichts, und selbst die Nächte sehen wie Tage aus, und dann wieder die Tage wie Nächte. Warum, lieber Gott, hörst du nicht einfach auf, mich zu prüfen? Warum schickst du mich von einem Ort zum Nächsten und verweigerst mir die Gewissheit, endlich einmal anzukommen? Aber Gott schweigt, mein Kleiner, Gott schweigt immer, weil auch er nur eine Vorstellung ist. In Wirklichkeit hört dir niemand zu.“

Am Schluss muss der Buchhändler die ultimative Resignation erleben, als die drei Kinder ihn beim Gang auf der Landstraße abfangen, ihn zwingen, mit ihnen ins Moor zu gehen und mit ihm dort ein absurdes, irrationales Theater-Spektakel aufführen möchten – inspiriert ausgerechnet von den Büchern aus der Romantik, die sie vom Buchhändler erhalten haben. Das liest sich, als kippte Novalis zwangsläufig um in „Der Herr der Fliegen“. So viel scheitert hier: die Weitergabe von Literatur, die Weitergabe von Lebensweisheit, die Akzeptanz, die eigene Kindheit verloren zu haben. So sehr, dass der Buchhändler denkt:

Zitat: „Zum ersten Mal in seinem Leben fürchtete er sich vor Kindern.“

Die Existenz ist rätselhaft, der Erzähler nähert sich ihr zuweilen mit dem ethnologisch-verwunderten Blick wie in Klaus Hoffers kafkaeskem Klassiker „Bei den Bieresch“. Genau besehen, lässt Peter Zimmermann ständig unerbittlich lose Erzählstränge liegen, wie zum Beispiel bei Verwandten des Buchhändlers, die nach Amerika auswandern: Sie träumen von einem „weißen Häuschen in einem grünen Tal“ und sterben bei einem Unfall. Punkt.

Der Perspektivwechsel, der sich durch das Buch hindurch vollzieht, ist vielleicht dieser: Das lebenslange Bedauern, seine Kindheit verloren zu haben, dieses Zurückschauen, das Seitwärtsschauen auf andere: das ist nur die Angst, nach vorne zum eigenen, näherrückenden, sinnlosen Tod zu blicken.

Zitat: „Am Ende der Kindheit wird man ein anderer, dachte er, oder eigentlich tritt man aus dem kleinen Körper heraus in einen anderen, größeren, der sich unaufhörlich verändert, bis er stirbt.“

Das klingt brutal. Doch es ist nur konsequent für einen Autor, der schon früher kritisierte, es gebe in der Literatur von, Zitat, „Halbtalenten“ wie Robert Menasse und Daniel Kehlmann keine existentiellen Erschütterungen mehr. Über einen revoltierenden Schimpfton wie von Thomas Bernhard ist die Erzählstimme allerdings auch längst hinweg; sie macht, in sich gekehrt, Frieden mit dem Unabänderlichen. Eine Abkehr von Literaturbetriebs-Kämpfchen hin zum Grundsätzlichen: Ein leises, enigmatisches Buch, das seine Kraft erst langsam entfaltet.

Peter Zimmermanns Roman „Der Himmel ist ein sehr großer Mann“, erschienen im Milena-Verlag. 152 Seiten kosten 23 Euro.

Rezensiert für das SWR2 Lesenswert Magazin.