Es war ein Rummel, als ob ein neuer Harry Potter erschiene: Rezensenten unterzeichnen Verschwiegenheitserklärungen, Rezensionsexemplare kamen kurz vor knapp, die Buchbranche im Schock, als Amazon vor Erscheinen Exemplare losschickt… Ist der Hype um „Die Zeuginnen“ von Margaret Atwood gerechtfertigt?

Es gab Veranstaltungen mit der Autorin, live gestreamt und übertragen in Kinos weltweit, Mitternachtspartys der Buchhändler… Margaret Atwoods „Die Zeuginnen“ ist das „Buchevent“ des Jahres. Es ist die lang erwartete Fortsetzung von „Der Report der Magd“ aus dem Jahre 1985, einer Dystopie über einen faschistischen Gottesstaat in Amerika, in dem Frauen wegen atomarer Verseuchung zum Kinderkriegen mit Regime-Führern gezwungen werden. Das Buch war ein Bestseller, verfilmt von Volker Schlöndorff, erst jüngst als TV-Serie zu sehen. Vielleicht sollte man es so ausdrücken:

Es ist die alte Frage der engagierten Literatur: Will man sprachlich versiert schreiben und ein kleines Publikum erreichen? Oder will man ein breites Publikum aufrütteln – auf Kosten der Form? Mit „Die Zeuginnen“ und der weltweit angeworfenen Marketingmaschinerie geht Margaret Atwood klar den zweiten Weg, wenngleich auch oft gewitzt.

Denn nach fast 35 Jahren überrascht Atwood ihre 50 Millionen Fans zuallererst damit, dass sie nicht von der damaligen Hauptfigur, der Magd Desfred, weitererzählt. Stattdessen lesen wir drei abwechselnde Ich-Erzählungen, Zeuginnen-Berichte wie schon damals – von Frauen, die gegen Gilead kämpfen werden. Denn ihre Leserinnen, schreibt Atwood im Nachwort, wollten vor allem wissen, wie so ein eisernes Regime wie Gilead untergehen könnte. Atwood hat mit vielen von ihren Bekannten, ehemaligen Résistance-Kämpfern aus dem Zweiten Weltkrieg, darüber diskutiert.

Zitat: „Totalitäre Staaten können von innen heraus anfangen zu bröckeln, wenn sie die Versprechen, die sie an die Macht gebracht haben, nicht halten. Oder sie werden von außen angegriffen. Oder beides.“

Im Roman buchstabieren das die drei Heldinnen aus: Da ist Agnes, die sich als junge Frau in Gilead ihrer Zwangsverheiratung widersetzt und sich mit dem System gutstellt, indem sie selbst Erzieherin wird, jedoch schließlich die verdrehte Bibelinterpretation hinterfragen wird. Da ist Daisy aus dem freien Kanada, die sich undercover nach Gilead einschleusen lässt, um kompromittierende Informationen über Regimeführer herauszuschmuggeln.

Und da ist vor allem Tante Lydia, die Ober-Erzieherin gefügiger Mägde in Gilead. Tief in ihrem Innern hasst sie dieses verheuchelte System, in dem Moralprediger die ach so wertvollen Mädchen im Alter von 13 Jahren heiraten, verschleißen und verschwinden lassen. Tante Lydia will sich an persönlichen Feinden im Regime rächen. Keine strahlende, subversive Heldin, sondern einen zutiefst ambivalente Figur, die vor Gilead eine engagierte Familienrichterin und Frauenrechtlerin war. In der Revolution dann wurde sie gefoltert – und kooperierte schließlich!

Zitat: „Was nützt es, sich aus moralischen Gründen vor eine Dampfwalze zu werfen und platt walzen zu lassen wie eine Socke ohne den Fuß darin. Dann lieber mit der Menge verschmelzen, der gottesfürchtigen, geschmeidigen, Hass schürenden Menge. Lieber Steine werfen als mit Steinen beworfen werden.“

Fern von jedem Opferfeminismus führt Atwood vor, wie sich Frauen arrangieren müssen, zu Täterinnen werden, selbst Frauen unterdrücken. Das dürfte so manche Aktivistin verstören! In Argentinien, Irland oder den USA demonstriert so manche schließlich in roter Robe und mit scheuklappenförmiger, weißer Haube wie aus dem Roman gegen die Abschaffung von Frauenrechten. Sogar eine Vergewaltigung täuschen Tante Lydia und eine Kollegin vor, um einen unliebsamen Zahnarzt zur Strecke zu bringen.

Zitat: „Unschuldige Männer, die ihre Schuld abstreiten, klingen genauso wie schuldige Männer, wie du sicherlich schon bemerkt haben wirst, lieber Leser. Die Zuhörer sind geneigt, weder dem einen noch dem anderen zu glauben.“

Atwood führt eine Kommunikation vor, die, ganz anders, als es die MeToo-Debatte oft suggeriert, zweideutig bleibt, oft gerade deshalb, weil in einem Regime immer das Ungesagte, Verboten-Subversive mitschwingt. Was nicht heißt, dass Atwood nicht vieles unterschreibt, was die MeToo-Debatte ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit gerückt hat: Gerade in „Die Zeuginnen“ gibt es die generelle weibliche Körperscham, die Vergewaltigungsopfer, die stets als schuldige Schlampen diffamiert werden. Mehr als im Vorgängerroman erhalten wir hier nun einen Blick in das Erziehungssystem, das durch Schlafentzug, Horrorstorys, Folter operiert – und durch früheste Kinderreime:

Zitat: „Eins gemordet / Zwei geküsst / Drei ein Baby / Vier vermisst / Fünf das Leben / Sechs der Tod / Und sieben, wir haben dich / Rot! Rot! Rot! – Und das siebente Mädchen wurde von den beiden Zählenden gefangen und im Kreis herumgeführt, bevor sie einen Klaps auf den Kopf bekam. Jetzt war sie ‚tot‘ und durfte die nächsten beiden Henker aussuchen.“

Margaret Atwood hat erklärtermaßen schon in „Der Report der Magd“ nur Politiken mit realen Vorbildern beschrieben. Auch dieses Mal liest sich Vieles sehr realistisch: Das Regime errichtet eine Statue von Tante Lydia, plump-kitschig wie ein Sowjetdenkmal, man baut ein ins freie Kanada gerettetes Baby zum Märtyrer auf wie in einer Medienkampagne amerikanischer Spin doctors.

Hatte der Vorgängerroman einzig aus Gilead berichtet, schauen wir durch Daisys Augen aus Kanada nun auch von außen auf Gilead, und da zeigt sich auf Staatsebene, wie Kanada sich mit dem mächtigen Nachbarn arrangiert und ihn dadurch zunächst stabilisiert. Schließlich leide man sogar unter den Massen von flüchtenden Mägden, schimpfen kanadische Demonstranten:

Zitat: „Grenzen dichtmachen! Gilead, behalt Dein Gesocks, wir haben hier schon genug! Stoppt die Invasion!“

Flüchtlinge und Grenzen… die Parallelen zu unserer Gegenwart sind überdeutlich. Margaret Atwood scheint uns in Tante Lydias Stimme aus unserer bequemen Trägheit reißen zu wollen.

Zitat: „Wie unendlich blöd war ich gewesen, an den ganzen Quatsch zu glaubenn – Leben, Freiheit, Demokratie und die individuellen Rechte, wie ich sie im Studium verinnerlicht hatte. Dies seien ewige Werte, und wir würden sie stets verteidigen. Ich hatte mich darauf verlassen wie auf einen Zauber.“

Das ist schon etwas überdeutlich, ebenso wie die Hinweise auf faustische Pakte und reale Diktatoren – in einer Sprache, die fast ohne Kreativität in kurzen Sätzen vor allem darauf setzt, leicht lesbar zu sein und selbst dann nicht zu sehr zu schmerzen, wenn es um Exekutionen geht.

Am Ende wirkt „Die Zeuginnen“ nicht so beklemmend wie „Der Report der Magd“. Das liegt vor allem an den drei wechselnden Erzählerinnen. Damals waren die Leser komplett im Kopf der Magd Desfred in Gilead gefangen. Nun geht diese Angstlust auf Diktatur-Feeling verloren, denn der Sturz von Gilead scheint greifbar. Ein bisschen wie die jüngst angelaufene dritte Staffel der TV-Serie. In der wird Desfred zur Aufrührerin – der Plot ist letztlich anders als „Die Zeuginnen“. Nach einigen Längen im Mittelteil fiebern wir im Buch am Ende eher mit, wie in einem Thriller – inklusive Trickkameras, Doppelagentinnen und Kopf-an-Kopf-Rennen.

Die drei Frauen haben unerwartete Verbindungen miteinander, die manche Rezensenten von Dickens-schen Motiven schreiben ließen; tatsächlich wird sogar Desfred, die Hauptfigur aus Teil eins, in der Ferne auftauchen und den Kreis schließen, nicht ohne eine Portion Melodramatik freilich. So ist das Buch hoffnungsvoller und spannender als sein Vorgänger geraten, aber lässt aber das genuin Literarische meist vermissen.

Rezensiert für das Lesenswert Magazin auf SWR2.