Verwirrte homosexuelle Teenager: Dennis Coopers brutaler und zugleich unglaublich einfühlsamer Roman zeigt, wie es zu äußersten Gewaltausbrüchen kommen kann.

Der 1953 geborene US-Autor Dennis Cooper ist generell ein Mann der Grenzüberschreitung. Seit Ende der Achtziger Jahre schreibt der bekennende schwule und drogenerfahrene Autor Bücher, in denen er die Themen Homosexualität, verhindertes Coming Out, Drogen und Gewalt mitunter drastisch in Szene setzt. Cooper ist im Deutschen weitestgehend nicht übersetzt, ganze Romanzyklen harren der deutschen Leser. Nach „God Jr.“ hat der Wiener Luftschacht-Verlag „Mein loser Faden“ in deutscher Sprache herausgebracht.

Und man muss zugeben: Diese 160 Seiten sind zum Bersten gefüllt mit Liebe und Schrecken, und wie für Dennis Cooper typisch, geht auch „Mein loser Faden“ in medias res: Ich-Erzähler und Teenager Larry soll für einen etwas älteren Anführer einer Neonazi-Gruppe einen Mord begehen. Denn Neonazi Gilman fürchtet, jener Bill, ein jugendlicher Stricher am Rande der Gesellschaft, könne Gilmans heimliche Homosexualität bekannt machen.

Dieser Mord samt Larrys aufkeimenden Schuldgefühlen aber ist nur die Spitze eines Eisbergs. Die zermürbenden emotionalen Unsicherheiten, denen die oberflächlich coolen Figuren ohne Verschnaufpause ausgesetzt sind, reichen viel tiefer. Der arme Larry selbst ähnelt der labilen Hauptfigur in „Der Fänger im Roggen“, allerdings ist er noch überreizter, fast schizoid und hat die Pistole im Anschlag.

Denn Larry fühlt sich zu seiner Schulfreundin Jude hingezogen. Sie aber sagt ihm mehrfach unverblümt, dass er schwul sei. Außerdem hat sie anscheinend eine Affäre mit dem gemeinsamen Freund Pete. Zu dem sich Larry ebenfalls hingezogen fühlt. Sogar zu seinem eigenen dreizehnjährigen Bruder hat Larry ein höchst ambivalentes, erotisch-gewalttätiges Verhältnis. Schier jede Beziehung ist auf dieser Ebene verkompliziert durch Projektionen, Doppelbödigkeiten, Spiegelungen. Die Hölle, das sind für Larry seine Mitschüler. Und Larry, dieser im Innersten zitternde, fast zarte Jugendliche, leidet auf jeder Seite dieses aufgeladenen Romans.

Doch macht Autor Dennis Cooper alles noch ambivalenter – durch ein Notizbuch, das Bill, der tote Stricher, hinterlassen hat. Darin liest Larry immer wieder Dinge, die nach und nach alles umstürzen, was die Figuren über sich und ihre Beziehungen zueinander zu wissen glaubten. Das Ergebnis ist ein blutiger Roman der Unruhe voller Teen-Angst.

Das sitzt – und ist rätselhaft zugleich! Seine Wirkung erzielt der Roman „Mein loser Faden“ offensichtlich mit und trotz seiner Form. Ich-Erzähler Larry ist wahrlich kein Dichter, seine kargen Sätze sind oft Ellipsen. Geradezu leitmotivisch einfallslos sagt er bei jedem neuen Handlungsumschwung Sachen wie „Ich bin verwirrt“ oder „Das kostet mich eine Sekunde“. Dieser Erzähler belügt sich selbst unbewusst und die anderen meist bewusst.

Er versteht weder sich, noch die anderen, noch seine eigenen Beschreibungen: etwa die vom toten Stricher Bill, Zitat: „Er hat ein Gesicht aus Norwegen oder so, das mir nie in die Augen schaut.“ Die US-Kleinstadt, Figuren und Gegenstände sind nur skizzenhaft beschrieben. Das sind kurze, an der Oberfläche direkte Sätze, die Raimund Varga genau so übersetzt, wenngleich er manche amerikanische Wendung leider zu wörtlich überträgt. So schmucklos Coopers Sprache auch daherkommt – zwischen den Zeilen tut sich stets ein riesiger Abgrund des Ungesagten auf.

Immer wieder kommt es, vor allem bei Larry, zu Gewaltausbrüchen, aber die strukturieren das Buch nur oberflächlich, sie ziehen selbst an Larry fast wie durch einen Schleier betrachtet vorbei. Aber keine Angst: für Dennis Coopers Verhältnisse wiederum sind die Beschreibungen von Gewalt und Sex in diesem Roman geradezu indirekt, harmlos, diskret.

Fast überfleißig engagiert, auf aktuelle Anschlussfähigkeit hin geschrieben wirkt da zunächst der Schluss. Neonaziführer Gilmans homosexuell-radikalkonservative Dampfkessel-Seele platzt, er verübt einen Amoklauf an der Schule, ganz wie seine Vorbilder von der Columbine High School, denen bis heute im Internet homoerotische Neigungen nachgesagt werden.

Erklärtermaßen hat Dennis Cooper das Buch kurz nach der Schießerei an der Columbine High School 1999 begonnen, um zu zeigen, zu welchen Katastrophen der heteronormative Druck einer High School führen kann. Mag die deutsche Ausgabe da auch 20 Jahre hinterherhinken – sie verliert aufgrund wiederkehrender Schießereien in den USA keineswegs ihre traurige Aktualität.

Selbst ohne den explosiven Schluss wäre dieses tiefschwarze Coming-of-age zwischen Begehren und Brutalität unbedingt empfehlenswert. Ein eigenwilliges Lese-Vergnügen, für das man am besten ein neues Wort erfindet: Zerrissenheits-Lust.

Dennis Cooper: Mein loser Faden. Übersetzt von Raimund Varga und erschienen bei Luftschacht. 160 Seiten kosten 18 Euro.

Rezensiert für die SWR2 Lesenswert Kritik.