Dieses Buch behandelt die historischen Umwälzungen, die das Internet mit sich gebracht hat – gerade auch im Alltagsleben. Und es kommt nicht von irgendwem: Der Buchautor Maël Renouard hat mit Ende 30 bereits eine beeindruckende Karriere im Kulturbereich vorgelegt: Absolvent der Eliteuniversität „Ecole normale supérieure“, Philosophiedozent ebenda sowie an der Sorbonne und Redenschreiber für den Premierminister François Fillon. Ferner hat Renouard Friedrich Nietzsche, Joseph Conrad und Arthur Schnitzler, ja, sogar Platon ins Französische übersetzt, auch einen Roman hat er verfasst. Ein weitreichendes Schaffen, das der neueste, nun ins Deutsche übersetzte Essay erweitert.

Vor wenigen Jahrzehnten läutete das Internet ein fundamental neues Zeitalter ein, nicht nur technisch, auch kulturhistorisch. Erst jetzt wird uns das vollends klar. Von unserem alltäglichen Selbstbild bis zu den anvisierten Zielen unserer Zivilisation scheint das Netz alles zu verändern. Der französische Philosoph Maël Renouard umkreist diese großen Entwicklungen in „Fragmente eines unendlichen Gedächtnisses“ – und zwar in pointierten, anspielungsreichen, oft unverbundenen Aphorismen, Anekdoten und Geistesblitzen.

Er kann das so gut, weil er mit Ende dreißig die erste Hälfte seines Lebens ohne, die zweite Hälfte mit Netz erlebte und die Unterschiede kennt. Zum Beispiel:

Früher gebrauchten wir unseren Verstand, jetzt konsultieren wir Google. Früher schloss man sich im Kämmerlein ein, um konzentriert zu arbeiten; jetzt surft man dort ziellos herum und ist hilflos abgelenkt. Nicht umsonst überschreibt Renouard viele Passagen mit „Psychopathologie des digitalen Lebens“. Denn unser Empfinden und Denken kommt bei unseren technischen Erfindungen nicht mehr hinterher. Auch deshalb, weil sich manche neuen Entwicklungen binnen weniger Jahre wieder in ihr Gegenteil verkehren. Einst zum Beispiel scannte man Fotos und sicherte sie so vor dem physischen Verfall; mittlerweile druckt man sie wieder aus, weil man der Cloud nicht mehr traut! Das Digitale hat uns der Wirklichkeit entfremdet, so Renouards Grundüberzeugung.

Neben diesen Aperçus bietet Renouard allerdings nur wenige harte historische Thesen. Er arbeitet aber heraus, dass die Erfindungen beim Thema Bewegung und Speicherung lange Zeit parallel gelaufen sind: Flugzeug und Kinematograph, Mondrakete und Mikroprozessor. Heute lässt der bemannte Marsflug auf sich warten, während USB-Sticks unglaubliche Speicherkapazitäten haben. Für Renouard ein Beleg, dass unsere Zivilisation sich in eine neue Innerlichkeit versenkt und echte Expeditionen aufgibt. Er warnt: Irgendwann vergessen wir so unsere körperlichen Grundbedürfnisse und setzen unsere Fortexistenz als Gattung aufs Spiel.

Renouard sagt auch, was dieses Riesenreich an Informationen mit den Kulturschaffenden anstellt: Belesenheit ist out, Weglassen angesichts ergoogleter Faktenberge ist in. Vielleicht auch deshalb wählt Renouard so kurze Textformen für sein Buch. Die beherrscht er glänzend; der tastende Ton ist zudem treffend ins Deutsche übersetzt.

Zugegeben: Dieses Buch ist das Produkt eines französischen Eliteuniabsolventen, der en passant seine Segelurlaube erwähnt und mit mancher Assoziation einfach nur angibt. Bei einigen Zitatschwällen aus dem Netz hätte Renouard zudem kürzen können.

Aber Renouard gräbt auch herrlich rätselhafte Anekdoten aus. Etwa die des Physikers Georges Charpak, der im Louvre in den Rillen von Tontöpfen schallplattengleiche Aufzeichnungen suchte – vergebens. An diesem und anderen Beispielen demonstriert Renouard, wie verfehlt es ist, für gänzlich neue Medien angebliche Vorläufer zu suchen. Das Internet ist und bleibt einzigartig neu.

Das zeigt Renouard gerade mit seiner kulturhistorischen Kontrastfolie und vielerlei Kniffen: Er arbeitet das radikal Neue in Abgrenzung zu Aristoteles, römischen Kaisern, Aufklärern, Heidegger, Hegel, Bergson und Deleuze heraus. Er kreiert neue Wörter wie „Googlemantie“ für unser Befragen der Suchmaschine. Er verdeutlicht diesen einzigartigen Epochenschnitt seitenlang durch einen grandiosen Verfremdungseffekt, indem er plötzlich Computer in die Romanwelt von Gustave Flaubert verpflanzt. Er konfrontiert antike, ruhmsüchtige Helden mit einem facebookähnlichen „Gesichterverzeichnis“.

Das alles ist oft eher Spielerei, eher essayistische Kurzform im Stile von Paul Valéry, als große, bahnbrechende Philosophie. Aber kein Nerd kann so lyrisch die ambivalente Nostalgie beschreiben, die einen befällt, wenn man die eigene Facebook-Historie durchforstet, Zitat: „Im Internet gibt es einen Jungbrunnen, in den man zuerst berauscht sein Gesicht taucht und aus dem einen am andern Morgen das eigene, von den Jahren gebeutelte Spiegelbild anblickt.“

Eine geistreiche Lektüre und ein stilistischer Genuss!

Maël Renouard: Fragmente eines unendlichen Gedächtnisses wurde von Heinz Jatho aus dem Französischen übersetzt. Das Buch ist bei Diaphanes erschienen, hat 240 Seiten und kostet 20 Euro.

Für die „Lesenswert Kritik“ in SWR2.