Bruno Latour konnte nicht mehr länger warten: Nichts weniger als ein neues Hauptwerk legt er vor und hat seine Akteur-Netzwerk-Theorie aktualisiert. Vor allem die Leugner des Klimawandels nimmt er ins Visier.

Sein riesiges Theoriegebäude hat der 1947 geborene Anthropologe und Philosoph aus Frankreich immer wieder neu konzipiert, doch die anregensten Bestandteile blieben mehr oder weniger bestehen: Dinge handeln; das Soziale, Technische, Naturwissenschaftliche sind kaum zu trennen, und wenn, dann nur in groben Abstraktionen: Und genau das war der Kardinal-Denkfehler der Moderne, die fein säuberlich getrennt Seinssphären schied und ihnen Fachwissenschaften zuordnete. Erst Latours Werke, allen voran „Wir sind nie modern gewesen“ (1998) kehrten wieder ans Licht, in welche juristischen, politischen, technischen, wissenschaftlichen, sozialen Zusammenhänge auch die kühle Wissenschaft eingebettet ist.

Die einführende Anekdote des neuen Buches nun birgt eine gewisse Ironie: Ein Industrieller fragt einen Klimaforscher, warum er ihm all die aktuellen Horrorszenarien glauben solle. Und der Wissenschaftler wirbt um Vertrauen in die Forschungs-Institutionen, in die Apparate und Kontrollmechanismen. Ganz nach dem Geschmack von Bruno Latour, der seit Jahrzehnten anthropologisch jene Netzwerke untersucht, in denen Forschung stattfindet. Früher missvergnügt über den Vorwurf des Relativismus gegenüber den „Science Studies“, wischt Latour diese Kränkung jetzt beiseite.

„[…] weil keine Zeit mehr ist, um über den »Relativismus« der »science studies« zu disputieren. Diese ganze Angelegenheit ist zu ernst geworden für solche Zankerei. Wir haben dieselben Feinde, und wir müssen auf dieselben Dringlichkeiten antworten.“

Die Feinde, das sind jene, die sich kenntnisfrei, doch frech und skeptisch gegenüber der Wissenschaft geben, deren objektive Erkenntnisse Latour nicht anzweifeln will, da sie den Planeten retten helfen können. Nichtsdestotrotz gelte es, vom Naturbegriff der Moderne Abschied zu nehmen – hier führt Bruno Latour atemberaubend seine vor Jahrzehnten begonnene Kritik an der selbsternannten Moderne aus. Natur – das ist eine seltsame Abstraktion, die alles Umliegende von uns und unserer Lebenspraxis absondert. Statt einer zugerichteten, handgerecht gemachten Natur sei heute ein weiterer Fokus gefragt – der der Ökologie.

„Von nun an sind wir geladen, vor GAIA zu erscheinen.“

Solch emphatisches Raunen löst sich mit hochabstrakten Passagen ab, die auftrumpfend viele Konzepte der geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskussionen der letzten Jahrzehnte kreativ zusammendenken. Ganz klar ist das ein Hauptwerk, als Einstieg für Latour-Neulinge nicht zu empfehlen. „Wir sind nie modern gewesen“ lautete einst Latours schockierende Negativ-These; das neue Buch will positiv zeigen, wie wir mit Welt hantieren – jenseits der Trennungen von Subjekt-Objekt, Natur-Kultur, Geist-Materie – jenseits von Begriffen im Gefolge von Übervater René Descartes, an denen sich wohl immer noch ganz Frankreich abarbeitet.

„Der Kategorienfehler bestünde darin, zu glauben, dass die Welt vor der Erfindung des Wissens bereits aus objektivem Wissen »besteht«.“

Stattdessen regieren Netzwerke aus Dingen, Praktiken, Verweisen. Minutiös katalogisiert Latour fünfzehn solcher Existenzweisen: Technik, Politik, Recht, Religion klingen noch eingängig; gewöhnen muss man sich an Existenzweisen, die definieren, wie Lebewesen mutieren oder sich fortpflanzen oder gar, wie Netzwerke überhaupt miteinander verbunden werden.

Didaktisch zeigt sich Latour gewandt: Den Weg durch die Existenzweisen unternimmt der Leser an der Seite einer Ethnologin. Leider fällt das viel zu weitschweifig aus. Schuld sind auch Latours eigenwillige „Schreibweisen“ – ein postmoderner Jargon der Uneigentlichkeit, der alles zu jeder Zeit variabel hält, wie zum Beispiel im Konzept der „unveränderlichen Mobile“. Zumindest lädt der Autor auf einer eigenen, EU-finanzierten Website zur weiteren Kommentierung und Kritik und Weiterentwicklung ein. Ein Alter Hut für die Generation Facebook, für die Philosophie jedoch ist dieses Crowdsourcing eine kleine Revolution.

„In einer letzten Etappe können Sie sogar, wenn Sie es wünschen, an einer originellen Form von Diplomatie teilnehmen, indem Sie andere Formen der Wiedergabe als meine vorschlagen, um die Erfahrungen zu interpretieren, die wir kollektiv nachzeichnen werden.“

Dahin geht die Großlösung beim Thema Klimawandel: Wenn die Existenzweisen eben nicht auf einen einzigen Zentraldiskurs zurückführbar sind, dann bleibt uns nur die Diplomatie zwischen Technik, Religion, Politik, Wissenschaft, eine neue Kultur des Dialogs.

Aber wem war das nicht klar?! So bleibt der Eindruck, dass hier ein beweglicher, belesener, bestaunenswerter Geist die Welt am Ende eben nicht verändert hat, sondern sie doch nur… interpretiert hat.

Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Das Buch wurde von Gustav Roßler aus dem Französischen übersetzt und ist bei Suhrkamp erschienen. 665 Seiten kosten 39 Euro 95.