Über kaum etwas diskutieren Philosophen, Soziologen, Psychologen und Biologen so erhitzt miteinander, wie über das Bewusstsein. Antonio Damasio wagt nun eine biologische Theorie des Bewusstseins – ohne unseren Geist als bloßes Anhängsel, als „Pfeife auf der mechanischen Lok“ zu diskreditieren.

Antonio Damasio ist immer für eine Überraschung gut. Dass Gefühle notwendig für rationale Entscheidungen sind, ist inzwischen eine akzeptierte Erkenntnis. Dass aber das menschliche Bewusstsein vom Hirnstamm ausgehend entsteht, das klingt selbst für viele Neurologen immer noch nach Ketzerei. Der Hirnstamm, das „Reptilienhirn“ reguliert schließlich nur niedere Körperfunktionen, bei Menschen und Tieren. Doch Damasio hält Bewusstsein nicht für ein entwicklungsgeschichtlich neues Phänomen, das nur beim Menschen entstanden sein soll:

“Tiere zeigen Verhalten, das mit Bewusstsein vereinbar ist. Wenn man sich den Hirnstamm von Tieren anschaut, dann hat er einen ähnlichen Aufbau wie unserer. Es ist aber wichtig, dass der Prozess zwar im Hirnstamm beginnt, seinen Abschluss aber nicht auf dieser Ebene findet, sondern erst im Großhirn. Viele werden argumentieren, dass das menschliche Bewusstsein etwas sehr Spezielles ist. Ja, das ist es. Doch es würde nicht existieren, nähme es seinen Anfang nicht im Hirnstamm! Einige Menschen würden sagen, dass Menschen mit dieser Sicht heruntergestuft werden. Das ist nicht der Fall. Man müsste sehr dumm sein, wenn man nicht sähe, dass das Leben an sich den höchsten Grad an Komplexität besitzt!”

Damasios Modell hat eine doppelte Stoßrichtung. Einerseits bezieht  seine Hirnforschung konsequent die Evolutionstheorie ein. Sie beschreibt nicht mehr nur Hirnschädigungen oder scannt unsere graue Substanz, nein, sie vergleicht Lebewesen vom Fadenwurm bis zu den höheren Säugetieren mit dem Menschen und kann die Entwicklung des Gehirns und seiner verschiedenen Areale nachvollziehen. Andererseits ist es der Clou der Theorie,  dass mit der Entwicklung dieser Areale auch  immer höhere Formen des Selbst entstanden sind. So laufen etwa im “Protoselbst” auf der Ebene des Hirnstamms Informationen über den Körper zusammen: Temperatur, Zustand der Organe und so fort – eine Karte des Körpers, die nötig ist, um ihn zu überwachen. Auf der nächsthöheren Ebene entsteht das “Kernselbst”: Das Hirn braucht es, um den Organismus von der Umwelt zu unterscheiden.

„Im Hirn finden wir tatsächlich Strukturen, Regionen, Prozesse, die mit den Formen des Selbst, die ich beschreibe, korrespondieren. Man braucht das Konzept des Selbst, sonst landet man bei einem geistigen Prozess, der niemandem gehört! Die Idee des Selbst bedeutet, dass der Geist zunächst auf einen Punkt hin ausgerichtet ist, und das ist unser Körper. Deshalb haben wir einen Geist und ein Selbst: um den Lebensprozess besser zu steuern!“

Von noch höherer Ordnung ist das autobiographische Selbst: Es besteht aus der sich selbst erzählten Vergangenheit, aus Erlerntem und aus Vorlieben der Person. Dank seiner Hilfe manövriert sich der Mensch vor allem auch im Sozialen als ein konstantes, verlässliches Ich durch die Welt. Unser Ich ist also wie der Dirigent eines Orchesters, nur dass dieser Dirigent erst durch das Spiel entsteht, sagt Damasio einmal sehr schön. Fasziniert liest man dieses Buch und merkt erst später, wie elegant es die Spitzfindigkeiten alteuropäischer Bewusstseinsphilosophien über Bord wirft, zum Beispiel die Frage, wie Körper und Geist zusammenhängen.

„I think dualism has been dead for a long time. Except some people have not noticed it!“

Der Dualismus sei tot, nur einige hätten es nicht gemerkt, lächelt Damasio etwa. Vielleicht, weil das Bild schief ist: Neuronen, die Heimstätten des Geistes, sind auch Körperzellen und überwachen andere Körperzellen. Körper und Geist sind einfach zwei Seiten derselben Medaille.
Nun bezweifelt die Fraktion der Bewusstseinsmystiker, dass sich Bewusstsein und Hirn überhaupt exakt zuordnen ließen. Diese Kontroverse beweist aber nur eines: Dass die Bewusstseinsanbeter die Funktionsweise des Gehirns nicht verstehen, meint Damasio:

„Das Gehirn funktioniert global und lokal. Es ist eben nicht überdeterminiert. Wenn Sie zum Beispiel ein Klavierstück üben, wachsen die Areale, welche die Finger repräsentieren. Wenn Sie aber nicht mehr üben, werden diese Areale wieder kleiner. Das Hirn ist kein mechanisches Spielzeug. Es ist formbar und reich!“

Auch die Diskussion des traditionellen Problems der „Qualia“ – dass, wie und warum überhaupt sich unsere Erfahrungen irgendwie anfühlen – erweist sich als Spiegelfechterei. Wie Damasio schon früher darlegte, müssen sich Wahrnehmungen nach etwas anfühlen, um zu lebenswichtigen Entscheidungen zu führen. Der Organismus will überleben und keine philosophischen Diskussionen darüber führen, was jetzt von der eigenen verbrühten Hand im Kochtopf oder dem tagelangen Hunger zu halten ist.
Damasios Erkenntnisse lassen auch die Argumentation eines Philosophen wie Thomas Nagel in einem anderen Licht erscheinen, der meint, Bewusstsein sei nur durch die eigene Innenschau zugänglich. Damasio lehnt das nicht grundsätzlich ab, aber für ihn ist die Introspektion nur eine unter vielen wichtigen Erkenntnismethoden, etwa neben Hirnscan oder evolutionsbiologischer Analyse.  Trotz aller Schärfe in der Agumentation ist Damasios Ton sanft und sachlich, seine Sprache erheiternd anschaulich: Da bricht ein „Krieg um Bewusstsein zwischen Hirnstamm und Großhirnrinde“ aus, der Thalamus spielt dann den „Heiratsvermittler“.

„Ich benutze diese Bilder sehr vorsichtig und gehe sicher, dass sie mit echten Hirnfunktionen übereinstimmen. Solche Bilder oder etwa ‚Bewusstsein als Multimediashow‘ tun das. Ich kann damit denjenigen Lesern, die keine Spezialisten sind, einen Eindruck für die Prozesse im Gehirn vermitteln. Andere gängige Metaphern sind schlecht, weil sie in die Irre führen und zu sehr vereinfachen. Zum Beispiel immer dann, wenn ein komplizierter Prozess, an dem viele Hirnareale mitwirken, mit dem Wort ‚Zentrum‘ erklärt wird!“

Augenscheinlich wählt der Autor Beispiele bewusst so, dass sie Skeptiker besänftigen sollen: Geht es um die Wahrnehmung, so dienen Bachkantaten und der herrliche Pazifik dazu, die Empfindungsfähigkeit möglichst eher erhaben denn mechanistisch darzustellen. Plötzlich spricht der Autor dann auch vom „rebellischen Selbst“. Zumindest die Freiheit lässt er den Philosophen und Theologen also.

„Wir sind auf bestimmte Weise zusammengebaut, aber das heißt nicht, dass wir das akzeptieren müssen. Ohne Zweifel gibt es eine Menge Erfindungen von Menschenhand, wie das Internet, und diese verändern unsere grundlegendsten Lebensbedingungen. Kreativität kann also Bedingungen erzeugen, unter denen sich unsere Gehirne ändern, und wir wissen noch nicht, wohin die Reise geht.“

Dieses Zitat ist symptomatisch für die Stärken und Schwächen von Damasios Theorie:  Einerseits  fasziniert Damasios Modell durch eine Fülle von Erklärungen, die sich aus diesen Amalgamierungen zwischen Biologie und Kultur ergeben: Etwa, dass alle Kulturen sich Geschichten erzählen, weil das der erzählten Struktur unseres autobiographischen Ichs folgt und Kultur als Gefühlsbewältigungshilfe einen evolutionären Vorteil hatte. Je mehr sich Damasio aber auf das ihm fremde Terrain der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften begibt, desto skizzenhafter werden seine Bemerkungen aber andererseits. Damasio, bleib bei Deinen Neuronen! Möchte man rufen. Denn Bewusstseinsmythen zu entkräften, ist eigentlich schon Leistung genug.

Antonio Damasio: „Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins.“ Das Buch ist im Siedler-Verlag erschienen. 368 Seiten kosten 24,99 Euro.