Paul Auster will mit seinem neuen Roman die Umbruchszeit ab 2008 einfangen: Damals hielten sich der Schrecken der Finanzkrise und die Hoffnung auf einen Präsidenten Obama die Waage. Es ist ein Buch über Abschiede und Tode, meist ohne metafiktionale Volten geworden.

Miles Heller ist 28 und entrümpelt in Florida für eine Immobilienfirma die Häuser derjenigen, die ihre Raten nicht mehr bezahlen konnten und kopfüber vor den Banken geflüchtet sind. Anders als seine Kollegen, die wertvolle Hinterlassenschaften mitgehen lassen, fotografiert Miles wie besessen die einsamen Gegenstände.

„Er hat keine Ahnung, was ihn dazu treibt, diese Bilder zu machen. Er sieht durchaus das Nichtige dieses Tuns, von dem kein Mensch etwas haben kann, und doch spürt er jedes Mal, wenn er ein Haus betritt, wie die Dinge nach ihm rufen, ihn mit den Stimmen der Leute, die dort nicht mehr wohnen, ansprechen und ihn bitten, sie noch ein letztes Mal anzusehen, bevor sie weggekarrt werden.“

Die poetischen ersten Seiten ziehen den Leser förmlich in den Roman, doch dann wird es prosaischer. Was größtenteils an Miles liegt, in dem Auster die Richtungslosigkeit des amerikanischen Seelenlebens kondensieren will. Miles sucht ein Leben im Hier und Jetzt, aber nicht aus buddhistischer Lebensmeisterung, sondern aus Verdrängung. Vor Jahren hat er seinen Stiefbruder im Streit vor ein Auto und damit in den Tod gestoßen, hielt seine Schuld geheim und brach dann sein vielversprechendes Literatur-Studium und den Kontakt zur Familie ab. Einziger Lichtblick in Miles‘ Leben ist nun seine Liebe zu Pilar, einer 17jährigen Schülerin, die als Vollwaise bei ihren älteren Schwestern lebt. Sie ist hochbegabt und erläutert Miles zum Beispiel, warum in „Der Große Gatsby“ gerade der Erzähler Nick zentral sei:

„Alle anderen seien Verlorene, seichte Gestalten, und ohne Nicks Anteilnahme und Verständnis würden wir nichts für sie empfinden können. Alles hänge von Nick ab. Das Buch würde nicht halb so gut funktionieren, wenn es von einem allwissenden Erzähler erzählt würde.“

Die Passage zeigt Austers Schwäche und Chuzpe gleichermaßen: Einerseits wirkt die frühreife Pilar immer wieder konstruiert. Andererseits verficht die Figur eine Ästhetik, der sich Auster natürlich verweigert. Er setzt, anders als Fitzgerald, ein polyphones Stimmen- und Perspektivenkonzert ein, gleitet allerdings hin und wieder in eine allwissend klingende Erzählerstimme ab.

„Um das hier festzuhalten: Er ist nicht speziell auf junge Mädchen fixiert.“

Pilars Schwester Angela allerdings erpresst Miles bald. Sie fordert von ihm Diebesgut aus den verlassenen Häusern, ansonsten droht sie, ihn wegen Verführung Minderjähriger anzuzueigen. Kurzerhand flieht Miles zu einem alten Freund nach New York, der mit einer WG ein verlassenes Haus im Brooklyner Teil Sunset Park besetzt. Dieser Bing Nathan, massig, bärtig, könnte eine Karikatur der Occupy-Aktivisten sein, wäre er nicht ein weiterer planloser Typus Mensch.

„Er ist der Großmeister der Empörung, der Champion der Unzufriedenheit, der militante Entlarver des zeitgenössischen Lebens, der davon träumt, aus den Ruinen einer gescheiterten Welt eine neue Realität zu schmieden. Im Gegensatz zu den meisten Nonkonformisten seines Schlags glaubt er nicht an politische Betätigung.“

Oft fasst Auster, wie hier, zusammen, anstatt Szenen detailreich auszuschmücken – was insbesondere bei Bing Nathan schade ist, verficht dieser doch eine Philosophie der Greifbarkeit, repariert altertümliche Gegenstände in seiner „Klinik der kaputten Dinge“ im Szeneviertel Park Slope und lehnt alles Digitale ab.

So blicken wir nun abwechselnd durch die Augen der WG-Bewohner: Alice, die sich durch ihre Dissertation über Geschlechterverhältnisse im Nackriegsfilm quält und in ihrem Nebenjob beim PEN America ein bisschen Sinn schöpft; Ellen, Künstlerin mit Kreativitätsblockade. Außerdem: Miles‘ Mutter Mary-Lee, eine Film- und Broadwayschauspielerin; Miles Vater Morris, der einen Literaturverlag leitet…spätestens hier hat sich das Buch leider vom krisengeschüttelten Durchschnittsamerikaner zum Mikrokosmos der New Yorker Kulturschickeria verschoben. Das Rest-Amerika kommt nur noch per Mauerschau vor. Pilars Schwester Teresa etwa hat einen Freund, der im Irak stationiert ist – Auster schildert ihn nur als Abwesenden, anstatt ihn die kriegsmüde Nation lebhaft verkörpern zu lassen. Und Wirtschaftskrise heißt in diesem Roman: dass der Verlag von Morris Heller weniger Titel herausbringt. Den Amerikanern, die in Zelten schlafen müssen, kämen die Tränen. Den Opferwettbewerb zu verfolgten Schriftstellern verlieren sie zweifelsfrei, denn journalistische Passagen referieren die Leben von Salman Rushdie oder Liu Xiabo – mit notdürftiger Verbindung zu den Romanfiguren.

„Liu Xiaobo begann als Literaturkritiker und Professor an der Pädagogischen Universität Peking, ein ziemlich bedeutender Mann, der als Gastdozent an einer Reihe ausländischer Hochschulen arbeitete, darunter die Universität Oslo und die New Yorker Columbia University, Alices Columbia University, die Institution, an der sie ihren Doktor macht…“

Zwar hat sich der Autor den postmodernen Spieltrieb der fühen Detektivromane verboten, aber diese explizite Intertextualität ist ein wenig zu nackt und realistisch geraten. Dabei geht es auch unkonventioneller: Ein großer Unterstrom des Buches ist die Frage, wie tief Zufälle unser Schicksal bestimmen – ausbuchstabiert von Baseball-Ikonen. Miles liest in der Zeitung den Nachruf auf sein Idol, den Pitcher Herb Score:

„Als Dreijähriger wurde er vom Lieferwagen einer Bäckerei angefahren und erlitt schwere Beinverletzungen. […] Während seiner Zeit in der Provinzliga brach er sich erst den Knöchel, als er auf dem nassen Boden einer Umkleide ausrutschte, dann kugelte er sich die linke Schulter aus, als er im nassen Gras des Outfields ausrutschte. […] Ausnahmsweise ist Miles versucht, einen Vater anzurufen, mit ihm über Herbert Jude Score zu reden, über die Unwägbarkeiten des Schicksals, die Merkwürdigkeiten des Lebens, das Was-wäre-wenn und Hätte-sein-sollen.“

Austers Segen und Fluch zugleich ist es, dass er jeden Aspekt jeder Figur mit Gravitas auflädt und um sie ein Netz von zumeist literarischen Assoziationen spinnt. Der Autounfall von Miles‘ Stiefbruder erinnert natürlich an die Unglücksfälle in „Der große Gatsby“, die Fatwa gegen Salman Rushdie scheint ein moderner Fluch; immer wieder geht es um reale Wunden und darum, wie man durch Erzählungen die eigene Geschichte bewältigt: Miles‘ Mutter Mary-Lee spielt sich über ihre gescheiterte Ehe hinweg, als Schauspielerin erfindet sie sich ständig neu und heiratet noch zweimal; Miles‘ Vater Morris wirkt zuweilen wie im Spionagethriller, wenn er seinen entlaufenen Sohn heimlich beschattet. Das alles ist ergreifend und pointiert – und verblasst sofort gegenüber dem nächsten Existenzial-Superlativ: eine erhängte Studentin im Guggenheim-Museum, eine vereinsamt gestorbene Mutter,  eine kopflose Jugendliebe mit anschließender Abtreibung, Ehe- und Nervenzusammenbruch…

Überall offene Wunden, unfertige Abschiede, Halbheiten. Auch Miles‘ Geschichte erfährt eine tragische Abrundung: Miles, der einst alle Fäden seines Lebens abschneiden wollte und gerade wieder die Bande zu seiner Familie knöpfen möchte, dieser Miles zerreißt sein Leben in einem kopflosen Moment, als die Polizei mit dem Räumungsbescheid bei der WG anklopft. So bietet Auster viele dunkel funkelnde Perlen, allein die Perlenschnur scheint zu fehlen.

Paul Austers neuer Roman „Sunset Park“ ist im Rowohlt Verlag erschienen, hat 320 Seiten und kostet 19 Euro 95.