Ob als neue Frömmigkeit des Pilgerns, als Opus Dei im Kino, als Fundamentalismus auf der Weltbühne oder als Cyberchurch im Internet – vielgestaltig ist die Religion zurückgekehrt. Ein neuer Sammelband untersucht nun, was Religion im postsäkularen Zeitalter ist und sein kann. Die Liste der Autoren ist imposant: Die Protagonisten des New Atheism, Richard Dawkins, Daniel C. Dennett oder Christopher Hitchens geben sich die Ehre, außerdem Jürgen Habermas, Herbert Schnädelbach und Eugen Drewermann, Ulrich Beck, Jan Assmann und viele andere.

Gibt es Gott nun, oder nicht? Eins vorweg: Diese Frage wird auch der vorliegende Band nicht klären, und er kann die Bandbreite der Diskussion nicht erschöpfend darstellen. Aber er kann einige prominente Beweisführungen der vergangenen, recht heißen Jahre abbilden, und zwar ohne jede verwinkelte Fachterminologie. Darüber hinaus sind viele Texte ein Lehrstück darüber, wie vornehm an der Oberfläche, wie kompromisslos letzten Endes dann doch gestritten wird: Beim Atheisten Richard Dawkins fühlt man unterschwellige Arroganz, nicht minder auch auf Seiten der Theisten, bei denen quasi eine Sündentheologie fortzuwirken scheint: Wer meine, ohne Gott leben zu können, sei undankbar, impliziert da ein Robert Spaemann; wer die Welt ohne Schöpfer denken wolle, schlicht unintelligent; der Theist Peter Strasser wirft den Atheisten gar „Immanenzverblendung“ vor. Herausgeber Alf Mentzer:

„Es geht um die letzten Dinge. Wie soll man darum anders argumentieren als mit voller Leistung. Ja: Es geht um sehr viel, es geht immer ums Ganze.  um die letzten Wahrheiten. Das ist keine Diskussion für Warmduscher, denke ich!“

Einen recht schwachen, phänomenologisierenden Gottesbeweis von Robert Spaemann findet man gleich zu Anfang; unfreiwillig komisch wirkt wiederum der Beweis der Nichtexistenz Gottes durch Richard Dawkins: Wenn der Mensch so komplex ist, dass er – laut Theologie – einen Schöpfer braucht, dann ist die Existenz Gottes noch unwahrscheinlicher, schließlich wäre Gott noch komplexer, weil er ja alle geschaffen hat. Wer einmal mit dem Nichtbeweisen anfängt, so weiß Dawkins schließlich selbst, muss rastlos jede Fantasievorstellung widerlegen, bis zum fliegenden Spaghettimonster.

Können hier die Naturwissenschaften mit neuen Erkenntnissen helfen? Verdienstvoll lässt der Band aktuelle, interdisziplinäre Forschungsrichtungen zu Wort kommen, etwa die Neurotheologie, welche religiöse Empfindungen als Mini-Epilepsien deutet.

„Unter uns gesagt, ich halte die Neurotheologie für wenig ertragbringend. Es reicht für einen Spiegelartikel, der auf fünf Seiten meint, spektakuläre Sachen auszubreiten. Natürlich ändert sich damit überhaupt nichts, wenn ich nachweise, dass beim Glauben bestimmte Hirnregionen aktiviert werden. Natürlich werden sie das. Alles ist beim Menschen auf Gehirnaktivitäten zurückführbar. Aber das war ja nicht die Frage!“

Sondern: ob Gott existiert! Und da verhält sich die Neurotheologie wohl agnostisch. Der Gottesglaube kann rein physiologisch sein, er könnte genauso gut auch vom Herrn ins Hirn gepflanzt worden sein.

Eigentlich müsste man die Gottesfrage also als unentscheidbar zu den Akten legen, neben die Dossiers von Elfen, Seeungeheuern und Yetis. Auch für die Moral ist der Herr nach Ansicht vieler Philosophen nicht mehr nötig. Nicht begründungslogische, sondern rein empirische Gründe haben Gott in letzter Zeit wieder in die Diskussion gebracht.

„Rein chronologisch hat es auch was mit dem 11. September zu tun. Die berühmte Friedenspreis-Rede von Habermas: Der Philosoph der Frankfurter Schule, der kritische Philosoph, der plötzlich anfängt zu sagen: Wir müssen die religiöse Fundierung von moralischen Argumenten auch ernst nehmen. Ich glaube, es ist schon eine Reaktion auf die gegenwärtige Situation, in der einfach religiöse Gefühle, religiöse Motivation ein Faktum sind. Damit muss auch der Agnostiker, der Atheist, der kritische Philosoph sich auseinandersetzen.“

Diese neue normative Kraft des Faktischen hinterlässt einen pelzigen Nachgeschmack: Sollen wir denn die Religion tatsächlich akzeptieren, nur weil sie eine Konstante der menschlichen Existenz ist? Oder, unverschämter mit Daniel C. Dennett: Sollen wir dann auch den Schnupfen heiligen, nur weil er uns schon jahrtausendelang begleitet? Jede Irrationalität könnte sich mit dem Verweis auf den Wert der Tradition in die Zukunft retten. Vielleicht hilft bei der Religion nur eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Die Texte offerieren vielfältige Bilanzen: Religionen als vorpolitische Ressourcen des Staates, als Erzählungen der Selbstvergewisserung, als ethisches Bollwerk in einer Technokratur, als Angstkompensation.

Aufgeräumt wird aber auch mit vielen gerne geglaubten Märchen: Keine medizinische Studie hat je bewiesen, dass das Beten heilt; vielmehr erzeugt er auch heute noch Zwangsneurosen. Ferner ist das Christentum nicht der Ursprung des Universalismusgedankens und damit gar der Menschenrechte. Herbert Schnädelbach zeichnet nach, wie die griechische Stoa das Fundament der Menschenrechte legte, Rainer Forst, wie die Ketzer die säkulare Toleranz fundierten; von Jan Assmann und Ulrich Beck lernen wir, wie der Monotheismus den Hass in die Welt brachte, weil er eine scharfe Grenze zwischen Gläubigen und Heiden zog.

Am Ende sieht der verwirrte Leser alle Grenzen aufgeweicht, wenn unter den Begriff Religion selbst Kommunismus oder gar Kapitalismus und Konsumgeilheit fallen, wie bei Norbert Bolz. Die postmoderne Beliebigkeit zwischen den Religionen spiegelt sich auch im Individuum. Im spirituellen Supermarkt baut sich jeder seinen eigenen Kult.

„Im Funkkolleg haben wir eine Frau, die beschreibt, wie sie morgens mit ihrem Mann den Tag beginnt: Sie macht Zen-Meditationen, dann betet ihr Mann den Rosenkranz, dann folgen sie einem Ritual aus dem Sufismus. Dann haben sie ein All-Inclusive-Programm für die Seele durchexerziert. Ich finde es ein wenig widersprüchlich, weil in der Religion auch der Gedanke steckt, dass nicht alles in meiner Verfügung ist, sondern dass es etwas gibt, das über mich bestimmt, wovon ich determiniert werde.“

Mehrere Texte beschäftigen sich mit dem Effekt, dass der „Gläubige zum Gläubiger“ wird. Beiträge mit Kriterien für eine funktionierende Internetkirche oder für den „richtigen Guru“ zeigen, für wie wichtig die Autoren eine praktische Orientierungshilfe halten. Sehr sympathisch skizziert etwa der Pfarrer Heinzpeter Hempelmann eine Kirche in der Postmoderne: Keine wahrheitsverkündende, dogmenverwaltende, richtende Organisation, sondern eine vor Ort engagierte, eine barmherzige, demütige Kirche wünscht er sich. Das postsäkulare Zeitalter könnte also trotzdem ein postdogmatisches sein.

Nach so viel Kulturgeschichte und Theologie untersucht der Band auch die Religionsquerelen der vergangenen Jahre. Karikaturenstreit, Kölner Domfensterstreit, Zwist um religionskritische Theaterstücke oder die Zeichentrickserie Popetown…Die Texte zeigen glücklicherweise nur ein verhaltenes Verständnis für professionell beleidigte Hitzköpfe. Wie man sich zur künstlerischen Freiheit verhalte, bleibe eben der Lackmustest für Religionen, heißt es im Band. Man könnte es auch noch deutlicher formulieren: Hier sind menschliche, allzumenschliche Empfindlichkeiten getroffen, es sei denn, irgendjemand glaubt an einen schwächlichen Gott, der ernsthaft über Theaterstücke und Cartoons schmollt.

„Wir haben in dem Band den allerletzten Artikel darüber, ob man über Gott lachen darf. Selbst die Frage wird natürlich sehr erbittert diskutiert. Es gibt eine Menge Kirchenvertreter, die das vehement abstreiten würden. […] Es betrifft auch die Frage, ob Kirche lebensfeindlich oder lebensbejahend ist, ob sie repressiv ist oder Möglichkeiten öffnen kann.“

Es ist der Grundwiderspruch des Christentums: Man redet von der frohen Botschaft, aber betet einen geschundenen Gekreuzigten an, der in der Bibel kein einziges Mal lacht. Wen bitteschön soll das befreien?

Der Sammelband ist reich an originellen Einsichten, und am Schluss hält Ulrich Schnabel auch hier eine Pointe bereit. Dem verbissenen Christentum kommt ausgerechnet der angeblich so verstockte Islam zur Nachhilfe geeilt. In den Hadithen, den Überlieferungen aus dem Leben Mohammeds, lesen wir, der Prophet habe so laut gelacht, dass man seine Weisheitszähne sah; die Aleviten erhoben den Humor gar zur Kunstform. Abseits aller philosophischen, theologischen, juristischen oder medizinischen Querelen möchte man allen Streithähnen daher als Motto empfehlen: Mehr Humor wagen.

Der Sammelband „Wozu Gott? Religion zwischen Fundamentalismus und Fortschritt“ wurde herausgegeben von Peter Kemper, Alf Mentzer und Ulrich Sonnenschein. Erschienen ist er im Verlag der Weltreligionen bei Suhrkamp. 350 Seiten kosten 12 Euro. Das dazugehörige HR-Funkkolleg startet am 31. Oktober.

Für „Forum Buch“ in SWR2.